Pultstar mit Bodenhaftung
Zwei berühmte Orchester, ein Dirigent: Andris Nelsons zwischen Gewandhaus Leipzig und Boston
BADEN-BADEN - Er kommt auf die Bühne wie ein Handwerker. Andris Nelsons inszeniert seine Auftritte nicht. Da ist nichts entrückt oder gekünstelt. Kein abgehobener Maestro betritt im Festspielhaus Baden-Baden das Podium, sondern ein Musiker mit Bodenhaftung – ohne jeden Dünkel. Am Anfang seiner Karriere hat der Lette selbst Trompete im Opernorchester von Riga gespielt. Er ist einer von ihnen, das zeigt er den Musikerinnen und Musikern des Gewandhausorchesters. Seit wenigen Wochen ist Nelsons der 21. Leipziger Gewandhauskapellmeister und damit Musikchef des ältesten bürgerlichen Orchesters der Welt, das in dieser Saison sein 275. Jubiläum feiert. Boston und Leipzig kooperieren Bereits beim Antrittskonzert im Februar in Leipzig programmierte er mit einer Uraufführung und dem Violinkonzert von Alban Berg fordernde Werke. Auch das Konzert in Baden-Baden, das Teil der ersten gemeinsamen Europatournee mit zwölf Konzerten von Wien bis Madrid ist, beginnt mit zeitgenössischer Musik. Thomas Larchers „Chiasma“wurde für das Gewandhausorchester komponiert. Mit großer Besetzung und besonderen Farben zeigt der traditionsreiche Klangkörper eine hohe Qualität, die dieses zehnminütige, von tonalen Inseln geprägte Werk veredelt.
In Leipzig möchte Andris Nelsons alle Bruckner-Symphonien auf CD einspielen und sich dem symphonischen Gesamtwerk Tschaikowskys widmen. Zum ersten Mal wird es mit Jörg Widmann einen Gewandhauskomponisten geben. „Wir haben diesen Ehrentitel eingeführt, um die Tradition des Orchesters hervorzuheben, Vergangenheit und Zukunft stets miteinander zu verbinden. Neben dem Komponieren fürs Orchester umfasst der Titel noch andere Aufgaben: Der Gewandhauskomponist wird auch an Publikumsgesprächen teilnehmen. Und weil Widmann ein großartiger Klarinettist ist, spielt er auch selbst Kammermusik und tritt als Solist im Großen Concert auf.
Einen bemerkenswerten Akzent setzt der 39-jährige Dirigent durch die vielschichtige Zusammenarbeit des Gewandhausorchesters mit dem Boston Symphony Orchestra, dem Nelsons seit 2014 ebenfalls vorsteht. Geplant sind gemeinsame Auftragswerke und ein Austausch von Musikern über einen Zeitraum von drei bis sechs Monaten. „Erfahrung in anderen kulturellen Kontexten zu sammeln, ist für die Weiterentwicklung eines Musikers wichtig“, betont Gewandhausdirektor Andreas Schulz. In beiden Städten wird es jeweils eine Leipzig- beziehungsweise BostonWoche geben, die vom renommierten Musikwissenschaftler Christoph Wolff kuratiert wird. Auch die Orchester selbst geben in der musikalischen Partnerstadt ein Gastspiel. Der musikalische Nachwuchs profitiert ebenfalls von der einzigartigen Orchesterpartnerschaft. So können die Mitglieder der Leipziger Mendelssohn-Orchesterakademie in Zukunft die Sommerakademie des Tanglewood Music Centre (TMC) besuchen, während im Gegenzug ein Meisterschüler der TMC-Komponistenakademie für die Leipziger Kollegen ein Werk schreibt, das von einem TMC-Dirigierstudenten einstudiert und geleitet wird.
Wie gut es schon jetzt um die Beziehung zwischen dem Gewandhausorchester und seinem neuen Chefdirigenten bestellt ist, kann man in Baden-Baden schon bei Mozarts gMoll-Symphonie KV 550 bemerken. Nelsons ist ganz beim Orchester, wendet sich auch einmal einer einzelnen Streichgruppe zu und formt mit seinen Händen Linien, die er in der Musik hört. Fast wünscht man sich ein wenig mehr Schärfe, Kontrast und Dramatik bei diesem hochemotionalen Werk, besonders auch im Finale. Aber das Gewandhausorchester bleibt unter Nelsons bei seiner ganz verbindlichen, im Pianobereich enorm differenzierten Lesart, die jeden Effekt meidet und einen Weichzeichner über die musikalische Landschaft legt. Mut zur Radikalität Bei Tschaikowskys 6. Symphonie „Pathétique“, die er aus einer winzigen Studienpartitur dirigiert, ändert sich das Bild. Nun setzt Nelsons das Orchester unter Hochspannung. Und zündet im ersten Satz nach dem feinen, ins Nichts zurückgehenden Klarinettensolo mit einem regelrechten Sprung die nächste Eskalationsstufe, wenn die Durchführung einbricht. Hier ist alle Contenance dahin. Das Streichermeer wogt, die Bläser gewinnen an Schärfe, die Emotionen überschlagen sich. Im 5/4-Walzer (Andante) betören die Leipziger mit reinem Celloglück. Nelsons zeichnet mit seinem Dirigierstab Kringel in die Luft, um die Verzierungen der Holzbläser zu verdeutlichen. Den dritten Satz beginnt das Orchester mit einem Elfentanz à la Mendelssohn, um dann nach und nach mit perfekter Dosierung einen gewaltigen Marsch zu inszenieren. Im langsamen Finale schließlich zeigt der Traditionsklangkörper Mut zur Radikalität – die Streicherbögen kratzen, die gestopften Hörner verstören. Ein existentieller Klagegesang ohne jeden Trost! Nelsons hält die Spannung nach dem Schlusston eine halbe Ewigkeit, ehe sich die Begeisterung Bahn bricht. Erschöpft, aber glücklich lächelt Nelsons ins Publikum – um mit seinem Orchester am anderen Tag die Herzen der nächsten Stadt zu erobern.