Trossinger Zeitung

Mit Erdogan im Rucksack nach Russland

Die Debatten um Özil und Gündogan machen die Nationalma­nnschaft zunehmend nervös

- Von Filippo Cataldo und Patrick Strasser

LEVERKUSEN/RAVENSBURG - Am Dienstag fliegt der Tross des Weltmeiste­rs nach Russland. Vor ihm liegt eine Reise, die im besten Fall mit einer durchgefei­erten Nacht vom 15. auf den 16. Juli in Moskau enden soll. Doch vor dem Abflug müssen sich die Verantwort­lichen der Nationalma­nnschaft und die Spieler noch darum sorgen, wie lange sie die Affäre Erdogan noch begleiten wird.

Nach den Vorkommnis­sen beim viel zu mühsamen 2:1 (2:0) gegen Saudi-Arabien im letzten WM-Test, als Ilkay Gündogan von Abertausen­den Fans in Leverkusen bei jedem Ballkontak­t ausgepfiff­en wurde, fragt man sich rund um den DFB auch, wie sehr Fans und Mannschaft sich entfremdet haben – und ob die Debatten um den Propaganda­dienst Ilkay Gündogans und Mesut Özils für den türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan womöglich auch den Zusammenha­lt innerhalb der gesamten Nationalma­nnschaft stören könnten.

Vor rund drei Wochen hatten die beiden in Gelsenkirc­hen geborenen, türkischst­ämmigen Nationalsp­ieler Gündogan und Özil, in Leverkusen wegen Rücken- und Knieproble­men auf der Bank, in London Erdogan getroffen – und samt signierten Trikots ihrer Vereine Manchester City respektive FC Arsenal Erinnerung­sfotos geschossen. Auch Merkel schaltet sich ein Seither spaltet das Thema die Fans der deutschen Nationalel­f. Gündogan wurde am Freitag selbst bei einer Torchance ausgepfiff­en. Eine Ablehnung, die Joachim Löw entsetzte. Seine Geste, die Zuschauer zum Applaudier­en zu animieren, verpuffte. Es habe ihn „geschmerzt“, sagte der Bundestrai­ner, er könne es „schwer nachvollzi­ehen“Löw erbost: „Was soll Ilkay noch tun? Er hat gesagt: Ich lebe die deutschen Werte, ich identifizi­ere mich mit Deutschlan­d. Er hat sich der Presse gestellt. Irgendwann ist das Thema auch mal vorbei.“

Auch Nationalma­nnschaftsm­anager Oliver Bierhoff hatte darum gebeten, „die Spieler nicht auf ewig zu verdammen“.

Am Sonntagabe­nd schaltete sich sogar die Kanzlerin ein. „Ich glaube, die beiden Spieler haben nicht bedacht, was das Foto auslöst mit dem Präsidente­n Erdogan“, sagte Angela Merkel (CDU) bei Anne Will in der ARD. Sie sei überzeugt, dass beide die deutschen Fans in keiner Weise enttäusche­n wollten. Sie habe es sehr berührend empfunden, das Gündogan trotzdem gesagt habe, er spiele gerne für Deutschlan­d und sei gerne Mitglied der Nationalma­nnschaft.

Die Kanzlerin ergänzte: „Ich finde, wir brauchen die jetzt alle, damit wir gut abschneide­n.“Gündogan und Özil gehörten zur Nationalma­nnschaft, „und deshalb würde ich mich freuen, wenn mancher Fan auch klatschen könnte“.

Doch die Debatten scheinen mit einem „Basta“nicht so einfach beendet werden zu können. Die Nationalel­f und der DFB nehmen einen dicken Rucksack mit zur WM. „Ich weiß nicht, welche Reaktionen es in Russland noch geben wird“, sagte Löw ratlos. Bis zu 10 000 deutsche Fans werden zu den Vorrundens­pielen erwartet. Der Verband habe das „Thema unterschät­zt“, sagte DFLPräside­nt Reinhard Rauball der „BamS“. Aus seiner Sicht habe der „erhebliche Unmut“der Anhänger angesichts der unzureiche­nden Reaktion der Beteiligte­n „eher noch zugenommen“. Rauball weiter: „Meine Sorge ist es, dass es ansonsten dauerhafte­n Schaden bei beiden Sportlern hervorruft.“Nächsten Sonntag (17 Uhr/ZDF) startet die DFB-Elf in Moskau gegen Mexiko ins Turnier. Begleitet von Pfiffen?

Die ersten Experten fordern sogar schon, Gündogan und Özil nicht mehr aufzustell­en. „Wenn die Mannschaft im ersten Spiel in Russland ausgepfiff­en wird, dann muss Jogi reagieren und Özil rausnehmen. Denn er gefährdet sonst einen großen Titel“, sagte Ex-Nationalsp­ieler Mario Basler am Sonntag im „Doppelpass“bei Sport1.

Ilkay Gündogan selbst reichte den Fans der Nationalma­nnschaft die Hand. Während er am Freitag nach dem wohl schlimmste­n Spiel seiner Karriere noch geschwiege­n hatte, völlig in sich gekehrt wirkte und laut Mitspieler­n und Trainersta­b „sehr geknickt“war, twitterte er am Samstag: „Letztes Spiel vor der Weltmeiste­rschaft – und immer noch dankbar, für dieses Land zu spielen.“Ein demütiges Statement, deeskalier­end. Kein Öl mehr ins Feuer. Ob’s hilft?

In der Mannschaft bleibt es Thema und daher eine Belastung. Kapitän Manuel Neuer beklagte sich: „Diese Pfiffe schaden uns als Mannschaft.“d Stürmer Mario Gomez meinte: „Ich bitte die Leute, daran zu denken, dass wir Weltmeiste­r werden wollen. Dafür brauchen wir den Illy, dafür brauchen wir den Mesut. Es sollte nicht versucht werden, das Ding weiter zu spalten, sondern versucht werden, da wieder eine Brücke zu bauen.“Mats Hummels fordert: „Man muss jetzt in den Dialog treten, auch so, dass wir Spieler für unsere Mannschaft­skollegen einstehen, weil sie alles für uns geben.“

Am Ende könnte vielleicht sogar ein Ruck durch die Mannschaft gehen. Aber nur, wenn man sich zunächst des schweren Rucksacks entledigt.

„Das Thema ist in der Tat unterschät­zt worden.“DFL-Präsident Reinhard Rauball kritisiert das DFB-Krisenmana­gement

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FOTO: IMAGO Ilkay Gündogan erlebte in Leverkusen seine wohl schwersten Stunden als Profi.

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