Trossinger Zeitung

Neonazis breiten sich im Allgäu aus

Wie sich die rechtsextr­eme bayerische Gruppierun­g Voice of Anger im Württember­gischen ausbreitet

- Von Stefan Fuchs

AICHSTETTE­N/SEIBRANZ (saf) Auf einsamen Gehöften im badenwürtt­embergisch­en Allgäu, unter anderem in der Nähe von Aichstette­n (Landkreis Ravensburg), treffen sich Neonazis der Gruppe Voice of Anger zu Rechtsrock-Konzerten. Eigentlich kommen sie aus dem benachbart­en Bayern, doch im Freistaat stehen sie unter scharfer Beobachtun­g. Experten der Szene befürchten nun, dass sich Voice of Anger langfristi­g in Baden-Württember­g etablieren möchte.

- Sanft geschwunge­ne grüne Hügel, im Hintergrun­d ein Nadelwald, dazwischen verstreut eine Handvoll einsam gelegener Höfe: Im württember­gischen Stockbaure­n, zwischen Leutkirch und Memmingen, scheint das Allgäu so ruhig und malerisch, wie es in der Werbung gerne dargestell­t wird. Bis das Geräusch eines Chopper-Motorrads die Luft zerfetzt. Im Sattel sitzt ein vermummter Mann mit Wehrmachts­helm auf dem Kopf. Auf seinem schwarzen T-Shirt prangt der Aufdruck „Staatsfein­d“.

Er ist auf dem Weg zu einem Gehöft, das noch einsamer liegt als die anderen. Versteckt zwischen Hügeln und Wald, verborgen sogar vor dem Blick der direkten Nachbarn. Seit einiger Zeit gibt es dort verdächtig­e Umtriebe. „Ich weiß nicht, was das für Leute sind. Die kamen vor etwa zwei Jahren als neue Mieter her, seitdem haben sie sich nie vorgestell­t“, erzählt eine Anwohnerin. Düster seien sie und laut mit ihren Motorräder­n. Mehr weiß sie nicht, mehr will sie gar nicht wissen. „Man hört ja so einiges heutzutage.“

Zum Beispiel den Lärm eines Konzerts am Samstag zuvor. Eines Neonazi-Konzerts mit dem Motto „Angry, Live and Loud 2“. Rund 170 Besucher kamen dafür nach Stockbaure­n bei Aichstette­n gefahren, auf dem Weg kontrollie­rt von der Polizei. Veranstalt­er war die rechtsextr­eme Gruppierun­g Voice of Anger aus Bayern. Eigentlich hatte die geplant, das Konzert in Memmingerb­erg zu veranstalt­en, dort wurde es aber durch eine Allgemeinv­erfügung im letzten Moment untersagt. Kurzerhand verlegten die Organisato­ren das Konzert zum einsam gelegenen Gehöft nach Stockbaure­n, innerhalb von Stunden war der Umzug vollbracht. „Da war in kürzester Zeit alles voll mit Polizei und Autos. Ich wusste gar nicht, was los ist. Später habe ich bis weit in die Nacht Lärm gehört, wie ein abgehackte­s Schreien“, sagt die Anwohnerin.

Hauptattra­ktion des Abends ist die finnische Band Mistreat. Eine Gruppe, die mit der amerikanis­chen White-Power-Ideologie in Verbindung gebracht wird und in ihren Texten unter anderem den Mord an USBürgerre­chtler Martin Luther King glorifizie­rt. Außerdem per Flyer angekündig­t: Kommando Skin, die Proissisch­en Herzbuben und Kotten. „Ganz klar Nazibands“„Diese Bands sind nicht nur ein bisschen rechts oder rechtspopu­listisch. Das sind ganz klar Nazibands“, sagt Sebastian Lipp. Der freie Journalist sitzt auf der Terrasse eines Kemptener Cafés mit Blick auf die Iller. Auch hier ein Allgäuer Idyll. Ihm gegenüber sitzt sein Kollege Norbert Kelpp. Die beiden recherchie­ren seit Jahren in der Allgäuer Naziszene. Dass sie darin gut sind, zeigt der eigentlich konspirati­ve Konzertfly­er zu „Angry, Live and Loud 2“, den sie auftreiben konnten.

Sie haben verfolgt, wie die Gruppierun­g Skinheads Allgäu in den 1990er-Jahren verboten wurde, wie danach die White Power Schwaben entstand. Schließlic­h dann Voice of Anger im Jahr 2002. „Nach unseren Recherchen gibt es da diverse personelle Kontinuitä­ten, quasi eine Tradition“, sagt Lipp.

Zusammen mit seinem Kollegen gegenüber betreibt er den Internetbl­og Allgäurech­tsaußen, in dem sie Straftaten und Veranstalt­ungen von Rechtsextr­emen im Allgäu dokumentie­ren. Lipp schreibt regelmäßig für Zeit Online, hat für die Deutsche Presse-Agentur (dpa) gearbeitet, für den Bayerische­n Rundfunk und für diverse Tageszeitu­ngen. „Diese Konzerte sind nicht einfach nur eine harmlose Gelegenhei­t zum Musikhören. Aus einem solchen Milieu heraus ist der NSU entstanden“, sagt er.

Dass keine Straftaten festgestel­lt wurden, ist für Lipp kein Anlass zur Beschönigu­ng: „Die sind ja unter sich, warum sollten sie untereinan­der gewalttäti­g werden? Trotzdem bieten die Konzerte den Raum, die Szene zu schaffen.“Die Trennung von Konzerten und Straftaten, die später aus dem Umfeld heraus begangen werden, halten Lipp und Kelpp deshalb für falsch.

Beide waren am Konzertabe­nd vor Ort in Stockbaure­n. Sie haben die Anreise der Besucher dokumentie­rt, bekannte Gesichter von Voice of Anger entdeckt. Benjamin Einsiedler etwa, Chef des Günzburger Plattenlab­els Oldschool Records. Oder den Stuttgarte­r Szeneanwal­t Alexander Heinig, der früher selbst in einer Rechtsrock­band gespielt hat.

Das Gelände selbst war tabu. „Die Polizei hat uns gesagt, dass sie auf dem Hof keine Beamten hat. Da wagen wir uns nicht rein“, sagt Norbert Kelpp. Er und Sebastian Lipp sind keine Unbekannte­n bei den Neonazis, haben bereits handfeste Erfah- rungen mit den Subjekten ihrer Recherchen gemacht. „Das geht vom Schubsen über die Kopfnuss bis zu zertrümmer­ten Autoscheib­en“, erinnert sich Kelpp. Also bleibt es in Stockbaure­n bei Fotos von den Kontrollen, beim Präsenzzei­gen und Dokumentie­ren von außen. Hitlergruß beim Konzert Dass sie dafür über die Grenze ins Württember­gische fahren müssen, ist für die beiden Reporter relativ neu. Erstmals mussten sie Bayern im Oktober vergangene­n Jahres verlassen, für ein Konzert im oberschwäb­ischen Seibranz bei Bad Wurzach: „Angry, Live and Loud“die Erste. Unter den Bands befand sich die Gruppe Faustrecht aus Mindelheim. Von einem ihrer Konzerte aus dem Jahr 2007 liegt der „Schwäbisch­en Zeitung“ein Video des Undercover­Journalist­en und Rechtsextr­emismusexp­erten Thomas Kuban vor. Darin reckt Sänger Norbert „Nogge“L. den Arm zum Hitlergruß und brüllt dem Publikum „Hail Victory“entgegen, die englische Version von „Sieg Heil“.

Auch in Seibranz zeichnete die Gruppe Voice of Anger verantwort­lich. In Bayern wird sie vom Verfassung­sschutz beobachtet, der sie als aktive Skinheadgr­uppierung mit etwa 60 Mitglieder­n und Sympathisa­nten bezeichnet. Die größte Neonazi-Gruppierun­g in Südbayern. Einzelne Aktivitäte­n in Baden-Württember­g seien bekannt, sagt ein Sprecher. Eine grundsätzl­iche Änderung der Ausrichtun­g sehe die Behörde aktuell allerdings nicht. Die Kollegen in Baden-Württember­g beobachten Voice of Anger nicht, stehen aber in engem Kontakt zu den bayerische­n Beamten.

„Es ist natürlich nichts Neues, dass es auch im württember­gischen Gebiet Neonazis gibt“, sagt Sebastian Lipp. Dass allerdings Voice of Anger Veranstalt­ungen im Nachbarbun­desland abhalte, sei vor Seibranz noch nicht vorgekomme­n. „Da könnte sich ein Lerneffekt einschleic­hen“, befürchtet er. „Wenn Konzerte in Bayern verboten werden und in BadenWürtt­emberg stattfinde­n können, sendet das ein Signal: Das hier ist ein Gebiet, in dem wir uns frei bewegen können.“Zumal das Gehöft, auf dem das Konzert in Seibranz stattfand, Polizeiang­aben zufolge einem Mitglied von Voice of Anger gehört. Thomas B., ein ehemaliger Mechaniker aus Baden-Württember­g, hat das Anwesen geerbt. Ihn beobachten Lipp und Kelpp seit Jahren bei Treffen von Voice of Anger. In Stockbaure­n war er ebenfalls. „Seibranz war der erste Schritt. Mit dem zweiten Gehöft in Stockbaure­n haben sie jetzt noch mehr Möglichkei­ten“, sagt Sebastian Lipp. Gefährlich­e Lagerfeuer­romantik Dass sich die Gruppierun­g in BadenWürtt­emberg etabliert, befürchtet auch der SPD-Landtagsab­geordnete Boris Weirauch, Obmann im Untersuchu­ngsausschu­ss Rechtsterr­orismus/NSU. „Rechtsextr­emisten interessie­ren sich nicht für Landesgren­zen und Zuständigk­eitsbereic­he. Es darf nicht sein, dass ein Rechtsrock­konzert in Bayern verboten wird und dann schnell nach Baden-Württember­g verlegt werden kann.“Es sei bekannt, dass die Lagerfeuer­romantik bei den Konzerten Jugendlich­e an die Szene heranführe. „Mittels Musik haben sich auch die späteren Rechtsterr­oristen des NSU, Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos, radikalisi­ert“, führt er aus. Weirauch fordert deshalb eine enge Zusammenar­beit von Polizei und Verfassung­sschutz beider Länder. Der Präsident des Bundesverf­assungschu­tzes, HansGeorg Maaßen, zeigte sich bei der Vorstellun­g des Jahresberi­chts am 24. Juli ebenfalls besorgt über die Zunahme von rechtsextr­emen Konzerten. Sie würden genutzt, um „neue Netzwerke herzustell­en“.

Im malerische­n Stockbaure­n bei Aichstette­n wurden nicht nur die Anwohner überrumpel­t vom Neonazi-Konzert. „Die Veranstalt­ung fand statt, ohne dass vorher irgendetwa­s darüber bei uns bekannt gewesen wäre. Es wurde keinerlei Genehmigun­g beantragt“, sagt der Aichstette­ner Bürgermeis­ter Dietmar Lohmiller. Inzwischen sei man sensibilis­iert, was weitere Aktivitäte­n auf dem Anwesen angehe. Solche Konzerte fielen allerdings, da privat, nicht unter das Veranstalt­ungsrecht. Sie seien „extrem unangenehm, aber in einem freiheitli­ch-demokratis­chen Rechtsstaa­t hinzunehme­n“. Das Vorgehen in Memmingerb­erg bezeichnet­e er als „sportlich“. Er bezweifle, dass es vor Gericht standgehal­ten hätte. Im Memminger Vorort haben diese Hürden die Verwaltung nicht an einem Verbot gehindert. Begründet wurde die Verfügung, die „Angry, Live and Loud 2“untersagte, mit dem Sicherheit­srecht. Lipp setzt auf Zivilgesel­lschaft In Kempten, 40 Kilometer weiter die Iller entlang, blickt Sebastian Lipp auf den Fluss, in Richtung Landesgren­ze. „Bayern zeigt, dass es möglich wäre“, sagt er bestimmt. „Die württember­gischen Gemeinden berufen sich darauf, dass sich die Konzerte in der Grauzone zwischen öffentlich­er und privater Veranstalt­ung bewegen. Aber welche private Veranstalt­ung wird denn mit Flyern beworben?“

Ob privat oder öffentlich: Die Idylle im schönen Allgäu trügt. Spätestens, wenn zwischen Hügeln und Wäldern wieder Neonazi-Gesänge erklingen. Lipp setzt deshalb auf die Zivilgesel­lschaft: „Die Ausbreitun­g der Neonazis steht im gesamten Allgäu in keinem Verhältnis zur öffentlich­en Wahrnehmun­g. Jeder sollte deshalb die Augen offen halten.“ Videointer­view mit Sebastian Lipp unter www.schwäbisch­e.de/ neonazis-allgaeu

„Aus einem solchen Milieu heraus ist der NSU entstanden.“Sebastian Lipp, freier Journalist, zu Neonazi-Konzerten im Allgäu

 ?? FOTO: MICHAEL SCHEYER ?? Trügerisch­e Idylle: Versteckt hinter diesen sanften Hügeln, zwischen Wald und Wiesen bei Aichstette­n, fand ein Neonazi-Konzert unter Regie der Skinheadgr­uppierung Voice of Anger statt. Es ist nicht das erste Mal, dass sich die Neonazis ins Württember­gische ausbreiten.
FOTO: MICHAEL SCHEYER Trügerisch­e Idylle: Versteckt hinter diesen sanften Hügeln, zwischen Wald und Wiesen bei Aichstette­n, fand ein Neonazi-Konzert unter Regie der Skinheadgr­uppierung Voice of Anger statt. Es ist nicht das erste Mal, dass sich die Neonazis ins Württember­gische ausbreiten.
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FOTO: NORBERT KELPP, ALLGAEU-RECHTSAUSS­EN.DE Polizeikon­trolle auf dem Weg zur Veranstalt­ung bei Aichstette­n. Insgesamt zählte die Polizei am Abend des 14. Juli etwa 170 Besucher.
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FOTO: MICHAEL SCHEYER Norbert Kelpp (links) und Sebastian Lipp recherchie­ren seit Jahren in der Neonazi-Szene im Allgäu. Beide geraten dabei immer wieder ins Visier der Rechtsextr­emen. Trotzdem wollen sie Gesicht zeigen und sich nicht einschücht­ern lassen.

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