Psychisch Kranken zu Hause helfen
Neuer Landespsychiatrieplan setzt auf wohnortnahe, möglichst ambulante Behandlung
RAVENSBURG - Psychisch Kranke sollen so nah wie möglich am Wohnort versorgt werden – und so kurz wie möglich in der Klinik bleiben. Das ist ein Ziel des jüngst beschossenen Landespsychiatrieplans für Baden-Württemberg. „Jeder Dritte wird einmal im Leben psychisch krank“, sagt Sozialminister Manfred Lucha (Grüne). Welche Behandlung ein Erkrankter dann erwarten kann, das hat Luchas Ministerium nun in Zusammenarbeit mit vielen Praktikern zusammengetragen. Beteiligt waren auch Mitarbeiter des Zentrums für Psychiatrie (ZfP) Südwürttemberg. Dort arbeitet man schon lange daran, die Dauer stationärer Patientenaufenthalte so kurz wie möglich zu halten.
„Unsere Idee ist: Die Betten müssen überflüssig werden“, sagt Dieter Grupp, Geschäftsführer des ZfP Südwürttemberg mit den drei Hauptstandorten Bad Schussenried, Zwiefalten und Ravensburg-Weißenau. Während Allgemeinkrankenhäuser auf immer größere Einheiten mit mehr Betten setzen, soll die psychiatrische Versorgung so nah wie möglich am normalen Lebensumfeld der Patienten sein. Wenn beispielsweise ein Schüler an Depression erkrankt, soll er möglichst nicht über Wochen aus seinem Umfeld herausgenommen werden, sagt Grupp, sondern so oft wie möglich zur Schule gehen und in seiner Familie bleiben. „Das hilft im Genesungsprozess.“Mit diesem Konzept sieht Grupp das ZfP Südwürttemberg bundesweit als Vorreiter – „und der Landespsychiatrieplan unterstützt das dezidiert“. Krankenkasse zieht mit „Den Ansatz einer stärkeren Ambulantisierung in der Behandlung begrüßen wir ausdrücklich“, heißt es dazu von der AOK. Die Krankenkasse, die etwa die Hälfte der Versicherten in Baden-Württemberg vertritt, verspricht sich vom Landespsychiatrieplan „mehr Flexibilität, Vernetzung und Patientenorientierung“, wie ein Unternehmenssprecher mitteilt. Gut 465 000 AOK-Mitglieder in Baden-Württemberg – mehr als zehn Prozent aller Versicherten – waren 2017 allein wegen einer Depression in Behandlung, in den meisten Fällen bei einem niedergelassenen Therapeuten.
Doch auch im stationären Bereich hat die Zahl der psychisch Erkrankten in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Wurden im Jahr 2002 in Baden-Württemberg nach den Zahlen des Sozialministeriums knapp 68 000 Fälle im Krankenhaus behandelt, waren es im Jahr 2016 bereits knapp 90 000. Noch stärker stieg der Bedarf an tagesklinischer Versorgung, von gut 6200 Fällen im Jahr 2005 auf mehr als 14 000 Fälle im Jahr 2016. So entwickeln sich die psychiatrischen Kliniken nach und nach zu regionalen Versorgungszentren mit ambulanten und tagesklinischen Angeboten – ganz im Sinne der Landesregierung.
Bei den ZfP-Beschäftigten stößt das Ziel einer wohnortnahen und verstärkt ambulanten Versorgung auf breite Zustimmung, sagt Herbert Wilzek, Personalratsvorsitzender des ZfP in Bad Schussenried. Mit Blick auf die Umsetzung sieht er allerdings noch längst nicht alle Sorgen ausgeräumt. Wilzek fürchtet eine Überlastung der Mitarbeiter im stationären Bereich. Er bemängelt, dass viele der neuen Projekte Fachkräfte von den Stationen abziehen. Und dort seien die verbleibenden Kollegen dann überlastet. Auch Jochen Haußmann, gesundheitspolitischer Sprecher der FDP im Landtag, betont, dass im Landespsychiatrieplan „keine personellen Ressourcen“für die anvisierten Ziele hinterlegt seien. Personalrat Wilzek wünscht sich deswegen einen „Fonds für Investitionen in Veränderungsprozesse“, mit dessen Hilfe Mehrbelastungen gestemmt werden könnten.
Hinzu kommt der Fachkräftemangel. „Der Aufwand, eine neue Stelle zu besetzen, ist gigantisch“, sagt Dieter Grupp, der neben dem ZfP Südwürttemberg auch das ZfP Reichenau leitet. Grupp wirbt mit flexiblen Arbeitszeitmodellen und Kinderbetreuungsangeboten um weibliche Arbeitskräfte. Auch das Anwerben aus dem Ausland hat seine Tücken, berichtet Helmtraud Kantor, ärztliche Leiterin des ZfP in Bad Schussenried. Denn diese müssen sich von den deutschen Behörden erst einmal ihre ausländischen Examen oder Abschlüsse anerkennen lassen – und das dauert. „Wir bekommen teils über Monate keine Rückmeldung“, bemängelt Kantor. „Mein Wunsch sind verbindliche Zeitvorgaben.“In Bayern gibt es die: Binnen sechs Wochen sollen ausländische Bewerber wissen, ob ihr Abschluss anerkannt wird. In Baden-Württemberg, wo die Regierungspräsidien für die Anerkennung zuständig sind, herrscht dagegen ein Rückstau. Sozialminister Lucha gelobt Besserung: „Wir werden bis Ende des Jahres die Frist von drei Monaten, die gesetzlich vorgeschrieben ist, einhalten.“