Eine scharfe Waffe für Verbraucher
Musterfeststellungsklage verringert Kosten und Risiko eines Verfahrens gegen Unternehmen
BERLIN - Nicht nur betrogene VWKunden können vom neuen Klagerecht profitieren. Eine Musterfeststellungsklage (MFK) kann Konsumenten in vielen Lebenslagen zu ihrem Recht verhelfen. Denkbar ist, dass Versicherte eine höhere Beteiligung an den Überschüssen ihrer Lebensversicherung erstreiten oder Behinderte ein Verkehrsunternehmen zur Bereitstellung behindertengerechter Zugänge zwingen. Ebenso hält es der Berliner Rechtsanwalt Timo Gansel für möglich, dass Bewohner eines Pflegeheims gegen systematische Versorgungsmängel vorgehen oder Privatleute einen Internetanbieter verklagen, weil dieser die versprochene Übertragungsgeschwindigkeit nicht liefert. „Es wird vor allem um Geld und um Daten gehen“, glaubt Gansel.
Die Einer-für-alle-Klage Bei der MFK ziehen Geschädigte nicht selbst vor Gericht. Vielmehr übernehmen zugelassene Verbände oder Vereine die Klage. Für dieses Recht müssen sie einige Kriterien erfüllen. So müssen sie beispielsweise wenigstens 350 private Mitglieder oder zehn Mitgliedsverbände vorweisen können. Die Liste der schon zugelassenen Einrichtungen zeigt das Spektrum, das mit der Verbraucherklage abgedeckt wird. Darunter finden sich neben den Verbraucherzentralen oder den Mietervereinen auch der Bund der Versicherten, der Fachverband Glücksspielsucht, der Verein Pro Rauchfrei oder der Verband Privater Bauherren. 78 Organisationen sind beim Bundesamt für Justiz derzeit insgesamt registriert. Geklagt werden darf nur gegen Unternehmen, nicht gegen Behörden. Auch arbeitsrechtliche Streitigkeiten sind nicht zugelassen.
Anmelden und in Ruhe abwarten Die erste MFK wird wohl schon am 2. November eingereicht. Der Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv) will Entschädigungen für betrogene VW-Kunden durchsetzen. An diesem Fall lässt sich das Prinzip der MFK gut veranschaulichen. Der vzbv kann wenigstens zehn Kunden angeben, die durch den Autohersteller geschädigt wurden. Das reicht zur Einreichung der Klage bei einem Oberlandesgericht. Nachdem die Klage dann auch dem betroffenen Unternehmen zugestellt wurde, veröffentlicht das Bundesamt für Justiz die MFK auf ihrer Webseite (www.bundesjustizamt.de). Nun müssen sich innerhalb von zwei Monaten mindestens 50 Verbraucher für diese MFK anmelden. Die Teilnahme kostet nichts und muss spätestens bis zum Tag vor dem ersten Gerichtstermin angemeldet werden.
Dann wird das Verfahren eröffnet. Das Urteil oder ein Vergleich am EnDie de des Rechtsstreits ist später die Grundlage für den Umgang mit jedem Einzelfall. Bis dahin kann es ein langer Weg werden, wenn zum Beispiel der Bundesgerichtshof als letzte Instanz angerufen wird. Da die Verjährung in dieser Zeit ausgesetzt ist, bleiben etwaige Ansprüche der Verbraucher von der Verfahrensdauer unberührt. Die Anmeldung selbst muss schriftlich erfolgen, also per Brief, Mail, Fax oder mit einem Online-Formular.
Eine Entscheidung mit Folgen Es gibt drei Varianten für das Ende der MFK. Gewinnen die Verbraucher, gelten die vom Gericht festgestellten Tatsachen für alle gleichgelagerten Fälle. Die für das MFK angemeldeten Kunden müssen nun schriftlich gegenüber dem Unternehmen ihren Anspruch geltend machen und notfalls einklagen. Ein Risiko besteht nicht, da sich alle Gericht an das Urteil halten.
zweite Möglichkeit ist ein Vergleich zwischen den streitenden Parteien. In diesem Fall verpflichtet sich das Unternehmen zu einer konkreten Leistung für den Kunden. Diese ist bindend für alle Betroffenen im Klageregister.
Verliert der Verbraucherverband, bleibt Geschädigten nur noch die individuelle Klage gegen das Unternehmen. Das kann teuer werden, wenn sie verloren geht. „Eine Klage mit einem Streitwert von 10 000 Euro kostet bis zum erstinstanzlichen Urteil 2406,85 Euro“, erläutert Gansel. Darin seien 1683,85 Anwaltskosten enthalten. In diesem Fall muss der Kläger auch noch die Kosten der Gegenseite übernehmen.
Unternehmern bleibt nur eine Hintertür Die Musterfeststellungsklage soll nur Verbrauchern zum Recht verhelfen. Unternehmer und Freiberufler sind davon zwar grundsätzlich ausgeschlossen, allerdings nicht ganz. Sind sie privat als Konsument betroffen, dürfen sie sich einer MFK anschließen. Läuft also beispielsweise der VW mit Betrugssoftware bei einem Freiberufler als Privatfahrzeug, darf er sich registrieren lassen. Ist es ein Dienstwagen, nicht. Generell müssen Unternehmer ihre Ansprüche individuell einklagen. Trotzdem ist eine parallel laufende MFK womöglich für sie hilfreich. Anwalt Gansel rät dazu, das Verfahren in diesem Fall bis zu einem Grundsatzurteil in der MFK auszusetzen. Falle dieses zugunsten der Verbraucher aus, seien auch die Erfolgsaussichten der Klage des Unternehmers hoch.
Selbst klagen oder klagen lassen? Bisher blieb Konsumenten nur der Weg direkt zum Gericht, um Ansprüche gegen ein Unternehmen durchzusetzen. Insbesondere bei einem geringen Schaden von wenigen Euro lohnte sich dieser Aufwand und das mit einer individuellen Klage verbundene finanzielle Risiko nicht. Gerade in diesen Fällen ist die Einer-für-alleKlage der bessere Weg.
Anders liegt Gansel zufolge der Fall, wenn eine Rechtsschutzversicherung vorhanden ist und der Streitwert höher liegt. „Die Individualklage ist immer dann erste Wahl, wenn der Verbraucher kein Kostenrisiko hat“, erläutert der Jurist. Ansprüche ließen sich meist schneller durchsetzen. Möglich ist auch eine Kombination aus beidem. Hat der Verbraucher schon selbst eine Klage eingereicht, kann er sich zusätzlich einer Musterfeststellungsklage anschließen. Die erste Klage wird dann bis zur Entscheidung der MFK ausgesetzt. Lex VW Ohne den Dieselskandal würden die Konsumenten in Deutschland wohl noch lange auf diese Art der Sammelklage warten müssen. Erst die drohende Verjährung der Ansprüche betrogener VW-Kunden am Ende dieses Jahres hat die große Koalition auf Trab gebracht. Nach der Regierungsbildung wurde die Musterfeststellungsklage als erstes großes Gesetz schnell auf den Weg gebracht. So können die Verbraucherzentralen direkt nach dem Start am 1. November die erste derartige Klage für geschädigte Dieselbesitzer auf den Weg bringen.