Was Merkels Rückzug für Europa bedeutet
Etwas mehr als drei Jahre ist es her, da wählte das renommierte Time Magazine Angela Merkel zur Persönlichkeit des Jahres. Ein Foto, auf dem sie unternehmungslustig lächelnd vor der Kanzlermaschine steht, trägt den Titel „Kanzlerin der Freien Welt.“Und die Unterzeile setzt mit „De-Facto-Anführerin eines Kontinents“noch eins drauf. Steht nun, da Angela Merkel ihren Rückzug aus der Politik eingeleitet hat, dieser Kontinent Europa führerlos da?
Man kann die Sache von zwei Seiten betrachten. Im gleichen Jahr, 2015, als der hymnische Time-Artikel geschrieben wurde, schien Merkels Stern auf deutscher und europäischer Bühne zu sinken. Mit ihren Entscheidungen in der Flüchtlingsfrage stellte sie nicht nur deutsche Kommunen vor vollendete Tatsachen, sondern auch ihre europäischen Amtskollegen. Der Graben zwischen Ost- und Westeuropa wurde tiefer. Für den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien wird sie mitverantwortlich gemacht. Beliebtheit ist gesunken Seither wiegt Merkels Machtwort auf europäischer Ebene nicht mehr so schwer. Jüngstes Beispiel: Beim CO-Ziel hätte sie der deutschen Autoindustrie gern eine längere Schonfrist ermöglicht und befürwortete deshalb für 2030 ein Reduktionsziel von 30 Prozent. Die Umweltminister aber setzten sich über Berliner Signale hinweg und verlangten, dass Neuwagen ab 2030 im Schnitt 35 Prozent weniger CO produzieren.
Wenn es also stimmt, dass die einst mächtigste Frau Europas seit drei Jahren ständig an Einfluss verliert, dann kann Merkels Rückzug die EU nicht führerloser machen, als sie es jetzt schon ist. Andererseits wird ihr uneitel, besonnen und oft im Hintergrund ausgeübter Einfluss auf der internationalen Bühne ebenso fehlen wie auf der europäischen. Es gab Phasen in Merkels Laufbahn, da hätten sie laut Umfragen auch Griechen oder Franzosen lieber zum Regierungschef gewählt als einen ihrer heimischen Politiker. Solche Beliebtheitswerte erreicht sie schon lange nicht mehr. Es hat aber auch kein anderer Europäer ihren Platz eingenommen.
In vielen europäischen Ländern halten sich die alten demokratischen Kräfte nur mit Mühe an der Macht: Emmanuel Macrons Höhenflug in Frankreich scheint bereits nach 18 Monaten im Amt beendet zu sein. In Österreich und Italien sitzen die Rechtspopulisten mit in der Regierung. Auch deshalb schauen viele europäische Regierungschefs und ihre Wähler in Richtung Deutschland, das aus ihrer Perspektive als Hort der Stabilität und des Wohlstands erscheint. Als sich nach der letzten Bundestagswahl die Regierungsbildung in Berlin endlos hinzog, zeigten sich darüber die Kommentatoren ausländischer Zeitungen fast besorgter als die heimische Presse.
Jedoch ändert Merkels aktuelle Entscheidung auf europäischer Ebene wenig, weil sie dort schon vorher als angeschlagen galt. Es hätte Europa wohl gedient, wenn sie den Kanzlersessel bereits 2017 geräumt und dem Nachfolger/der Nachfolgerin eine Chance gegeben hätte, sich bis zur nächsten Europawahl im Sattel zu etablieren. Ihr wiederum hätten dann auf europäischer und internationaler Ebene die Karrieretüren offen gestanden.