„Bürgertickets sind eine sinnvolle Lösung“
Verkehrsexperte kommt zu Workshop nach Tuttlingen – Problem Binnenverkehr
TUTTLINGEN - Wie wird sich der Verkehr in Tuttlingen in den kommenden Jahren verändern? Wie sehen alternative Mobilitätskonzepte aus? Der Trierer Verkehrsexperte Professor Heiner Monheim kommt am Donnerstag, 15. November, nach Tuttlingen, um mit Vertretern der Stadtverwaltung und Gemeinderäten zu diesen Themen einen Workshop zu veranstalten. Abends hält er einen öffentlichen Vortrag. Redakteurin Ingeborg Wagner unterhielt sich im Vorfeld mit ihm. Herr Monheim – Die Stadt Tuttlingen muss täglich 16 000 Einpendler verkraften. Wie beurteilen Sie diese Zahl, bezogen auf die Einwohnerzahl von 37 000? Das ist zunächst einmal das Ergebnis einer starken Wirtschaftskraft. Dramatisch ist, dass so viele Pendler mit dem Auto zur Arbeit fahren. Glauben Sie, dass es möglich ist, einen Großteil zum Umstieg auf den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zu bewegen? Nicht alle, aber so viel wie möglich, und nicht nur auf den ÖPNV. Der Fußverkehr wird total unterschätzt, besonders viel leisten kann auch der Radverkehr. Rund 80 Prozent aller Haushalte in Deutschland besitzt ein Rad. Ob die Menschen im Alltag auf ihren Rädern sitzen oder nicht, hängt entscheidend von der örtlichen Verkehrsplanung ab. Außer dem Ausbau des Radwegenetzes – was gehört da noch dazu? Bei den Radwegen denken viele sofort an den Umbau von Straßen. Die Verantwortlichen in den Rathäusern können aber viel schneller reagieren, wenn sie im Straßennetz von Tempo-30-Zonen Fahrbahnen zu Fahrradstraßen erklären, in denen Radfahrer bequem nebeneinander radeln können und Autos nur noch als Gäste zugelassen sind. Wenn das in Tuttlingen 200 Mal gemacht wird, dann gibt es ein attraktives Velorouten-Netz. Und man kann den Menschen die Angst vor dem angeblich gefährlichen Radverkehr auf den Hauptverkehrsstraßen nehmen. Man bekommt ängstliche Menschen nur aufs Rad, wenn man ihnen sichere Verbindungen anbietet. Dennoch: Nicht jeder wird bereit sein, sein Auto stehen zu lassen. Irgendwann werden fast alle Leute klug. Der Mensch ist so gebaut, dass er Bewegung braucht. Wenn man wegen des Autos immobil geworden ist und sich kaum noch aktiv bewegt, dann ist das dramatisch. Mobilität mit aktiver Bewegung und nicht nur im Fitnessstudio ist eine gesundheitspolitische Notwendigkeit. Es ist ein Drama, wenn ganze Generationen mit Bewegungsmangel groß werden, weil sie im Elterntaxi befördert werden Was ist aus Ihrer Sicht zumutbar für Pendler an zusätzlichem Zeitauf- wand beim Verzicht auf das Auto? Es geht gar nicht nur um die absolute Reisezeit. Die Nutzungszeit von Bus und Bahn ist auch gewonnene Zeit. Man kann Zeitung lesen oder arbeiten während der Fahrt. Der entscheidende Faktor ist die Entfernung zur nächsten Bushaltestelle oder zum Bahnhof. Viele, die seit Jahren im Auto sitzen, denken nicht daran, dass eine Kombination aus Rad und ÖPNV sehr effizient ist. Nimmt man ein Faltfahrrad mit in Bus und Bahn, spart man viel Zeit am Start- oder Zielpunkt. Entscheidend ist, wo man lebt. Wer in dörflicher Umgebung wohnt, hat es mit dem ÖPNV deutlich schwieriger. Welche Vorschläge haben Sie außerdem für Tuttlingen parat? Auch die Betriebe sind gefordert, gerade in Tuttlingen mit den vielen mittleren und großen Wirtschaftsunternehmen. Mit Mobilitätsmanagement können sie helfen, Verkehrsprobleme zu lösen. Wie könnte das aussehen? Indem es günstige Jobtickets für Mitarbeiter gibt. Aber auch Kleiderspinde und Duschen am Arbeitsplatz für Radfahrer sind nötig, damit man sich frisch machen kann, wenn man lange Wege zur Arbeitsstätte radelt. Es geht weiter mit dem Jobrad. Mit Fahrradleasing können Betriebe ihren Mitarbeitern alle fünf Jahre ein neues Rad zur Verfügung stellen. Das wissen vie- le aber nicht. Ganz wichtig ist auch, die Mitarbeiter beim Bilden von flexiblen Fahrgemeinschaften zu unterstützen. Viele Arbeitnehmer haben flexible und unregelmäßige Arbeitszeiten oder schaffen im Schichtsystem. Da braucht man im Grunde eine internetbasierte App, die flexibel Angebot und Nachfrage bündelt. Da gerade Tuttlingen viele Hightech-Unternehmen hat, ist es ein Gebot der Zeit, sich darum zu kümmern. Ursache des Tuttlinger Verkehrsproblems sind aber nicht nur die Pendler. Das stimmt. Es gibt sehr viel Binnenverkehr. Im Schnitt unternimmt jeder Tuttlinger täglich 2,7 Autofahrten, darunter ganz viele Kurzstrecken. Ein Drittel der Fahrten in der Region liegen unter drei Kilometern. Das ist ein hausgemachtes Problem. Deshalb muss die Verkehrsplanung in Tuttlingen mehr Platz und Attraktivität in die Aktivmobilität setzen: Gehen und Radfahren. Wie wird sich aus Ihrer Sicht der Verkehr in zehn Jahren in Tuttlingen darstellen? Wie wird der Anteil an E-Autos sein? Wir müssen weg vom Diesel, auch bei den Bussen. Und bei der Bahn muss in Elektrotriebwagen investiert werden, erst danach kommt das E-Auto. Dort ist die Dynamik noch nicht sehr groß. Das wird sich ändern, auch bedingt durch den Diesel-Gate. Die große Hoffnung, mit E-Autos alle Probleme zu lösen, habe ich aber nicht. Sie helfen nur bei den Emissionen, nicht bei den Platzproblemen und nicht im Stau. Werden die Parkplätze, die in Tuttlingen gerade zusätzlich geschaffen werden, in einigen Jahren überhaupt noch gebraucht? Nein, wir werden künftig weniger Autos haben und sie seltener und intelligenter nutzen. Gerade ist die Studie Mobiles Baden-Württemberg veröffentlicht worden, die aufzeigt, dass wir den Autoverkehr auf Dauer halbieren werden. Trotzdem nimmt der Bundesverkehrswegeplan keine Notiz vom Klimawandel. Er plant riesige Straßenprojekte, auch beim Parken wird vielfach die Kapazität erweitert. Das muss aufhören. Wir müssen uns allmählich daran gewöhnen, dass sich auf unseren Straßen wieder viel mehr Radfahrer und Fußgänger bewegen. Und dass der öffentliche Raum auch wichtig ist zum Stehen und Sitzen, also zum „Parken“von Fußgängern. Würden Sie kostenlosen ÖPNV befürworten? Nicht wirklich kostenlos, denn kosten wird er ja immer was. Ein Bürgerticket halte ich aber für eine sehr sinnvolle Lösung. Das ist im Grunde eine Flatrate für ein halbes oder ein ganzes Jahr zur Nutzung des ÖPNV mit einer hohen Rabattierung wie bei den Semestertickets. Momentan ist der Rabatt für Monatstickets völlig unzureichend, und zudem ist alles viel zu kompliziert. Das ist auch der Hauptgrund, warum wenige Menschen Bus und Bahn nutzen: Weil sie Angst haben, die falsche Fahrkarte zu ziehen und dann als Schwarzfahrer beschuldigt zu werden. Mit einem Bürgerticket wären wir auf einen Schlag viele Probleme los. Haben Sie ein Auto? Nein, seit 40 Jahren nicht mehr. Und ich fahre trotzdem für meine vielen Termine kreuz und quer durch Deutschland, mit Bus, Bahn und Fahrrad. Ich habe gar keine Zeit zum Autofahren. Damals waren meine Kinder noch klein und mussten sich oft beim Autofahren übergeben. So, wie es vielen kleinen Kindern beim Autofahren schlecht wird. Das ist doch ein untrügliches Zeichen.