Tanz zwischen Hölle und Paradies
Die Compagnie Marie Chouinard gastierte mit „Der Garten der Lüste“in Friedrichshafen
FRIEDRICHSHAFEN – Kann man Kunstwerke in Tanz verwandeln? Die Kanadierin Marie Chouinard und ihre Compagnie können das. Für 75 Minuten entwickeln neun Tänzerinnen und Tänzer im Graf-Zeppelin-Haus einen ungeheuren Sog. Zum Gedenken an den 500. Todestag von Hieronymus Bosch entwickelte die Choreografin vor zwei Jahren ihre getanzte Sicht auf den „Garten der Lüste“, uraufgeführt in Boschs niederländischer Heimatstadt Hertogenbosch. Eine Annäherung an eines der rätselhaftesten Bilder der Kunstgeschichte.
Ein geschlossenes Altarbild empfängt die Besucher, Vogelzwitschern von der Tonspur von Louis Dufort erfüllt den Raum, mischt sich mit dem erwartungsfreudigen Gemurmel des Publikums. Dann öffnen sich im Video die Seitentafeln, das bunte Treiben im „Garten der Lüste“rückt ins Zentrum, flankiert von „Hölle“und „Paradies“. Wie mit der Lupe sieht man links und rechts der Bühne einzelne Szenen in runden Vignetten vergrößert, die die Tänzerinnen und Tänzer nachstellen, in fließende Bewegung bringen. Barfuß, mit offenen Haaren und nackten Oberkörpern finden sich Männer und Frauen in Gruppen zusammen, hautfarbener Schutz für Unterleib und Knie ist das einzige „Kostüm“für die alabasterfarbenen Leiber, die wie Skulpturen wirken. Wie im Rausch Sehnen und Begehren, Erotik und Sinnlichkeit wirken zusammen, imaginäre Früchte werden gepflückt und verschlungen, das kreatürliche Treiben steigert sich zur rauschhaften, aus Chorgesang und Orchestermusik gespeisten elektronischen Musik. Immer mehr Details aus dem so lustvoll vieldeutigen Bild werden herangezoomt, Tiere, Reiter, Früchte, Jagdszenen, eine Art Weltkugel auf dem See entzünden die tänzerische Fantasie der kanadischen Truppe. Kriechend transportieren die Tänzer schließlich einen durchsichtigen Ballon, in dem sie sich verzückt tanzend wie eine Hippiegemeinschaft versammeln. Eine Alptraumwelt Aus dieser sinnlichen Zauberwelt katapultieren Marie Chouinard und Hieronymus Bosch das Publikum direkt in die Hölle. Der Fantasie in Bild und Bewegung sind auch hier keine Grenzen gesetzt. Lärm, Schreie, eine Karaokesängerin in wilden Verrenkungen, allerlei Gerätschaften, Eimer, eine Leiter, an der jemand aufsteigt, hängt und abrutscht, immer wieder neu ansetzt, Folterinstrumente, Pfähle, Rohre sind versammelt in einer Alptraumwelt mit verzerrten Fratzen. Auch hier verdichten sich Einzelhandlungen zu großer Gruppendynamik, rasendem Trommelfeuer und orgiastischem Brüllen.
Im dritten Teil öffnet sich das Paradies, auf Boschs Bildtafel mit einem jungen Gottvater, der Eva segnend erschafft und Adam, der selig lächelnd im Gras sitzt: Marie Chouinard vervielfacht die Gesten und Bilder, eint die Tänzerinnen und Tänzer in einem Kokon von Demut und Verzückung. Immer mehr verschmelzen die Körper zu einem großen Ganzen, im Schattenriss sind die langsam kreisenden Hüften und Arme kaum mehr zu unterscheiden. Wenn sich die Tänzer schließlich unter dem großen Baum am linken Bildrand versammeln, ist es, als würde sich aus ihren Leibern die verführende Schlange bilden. Ein starkes Schlussbild in einem faszinierenden und begeistert aufgenommenen Tanztheaterabend!