Der Mann, der Google entdeckte
Ein Tüftler aus Nonnenhorn gründet im Silicon Valley Milliardenunternehmen und finanziert die wichtigste Suchmaschine der Welt
SANTA CLARA/RAVENSBURG - Diagramme, Kreise und Pfeile auf einem Blatt Papier. Eine Deckenlampe beleuchtet die Skizzen auf dem Esstisch, über den sich Wilhelm Blümlein beugt. Neben ihm ein 16 Jahre alter Jugendlicher, lange Haare, Birkenstocksandalen, der mit dem Chef des Wasserburger Maschinenbauers Andron über technische Probleme diskutiert. „Schon damals konnte Andreas gut erklären, komplexe Probleme mit wenigen Strichen und Zahlen erläutern“, sagt Wilhelm Blümleins Sohn Thomas in Erinnerung an die Gespräche im Hause Blümlein am Bodensee, als Vater und Kumpel im Jahr 1972 abendelang zusammensaßen und redeten.
Gespräche, ohne die die Geschichte des Internets möglicherweise anders verlaufen wäre – und ohne die es die bekannteste Suchmaschine der Welt, Google, vielleicht nicht gegeben hätte. Denn der jugendliche Gesprächspartner Wilhelm Blümleins war Andreas von Bechtolsheim. Der Unternehmer, Investor und Informatiker, der in den vergangenen Jahrzehnten wie kaum ein anderer Deutscher die IT-Industrie im Silicon Valley geprägt hat – und als Erster erkannte, wie revolutionär die Idee der GoogleGründer Larry Page und Sergey Brin wirklich gewesen ist. „Die Impulse für seine Computerleidenschaft hat sich Andreas bei meinem Vater geholt“, sagt Thomas Blümlein. „Mein Vater war sein väterlicher Freund, er hat ihm die Welt der Technik eröffnet.“
Mehr als 45 Jahre nach den Diskussionen am Blümlein’schen Esszimmertisch führt das Magazin „Bilanz“Andreas von Bechtolsheim auf Platz 19 in der Rangliste der 1000 reichsten Deutschen – hinter der schwäbischen Dübel-Familie Würth und vor dem Lebensmittel-Imperium der Oetkers. Der 63-Jährige gründete in Kalifornien mehrere Milliardenfirmen, die Rechnersysteme entwickelten und die Netzwerktechnik revolutionierten. 2010 schreibt das „Manager Magazin“über den Computerpionier, dessen Vermögen Experten mittlerweile auf mehr als acht Milliarden Euro schätzen: „Jeder Rechner, den er baute, war der schnellste seiner Generation, und mancher von ihnen sah sogar am besten aus.“Zudem engagiert sich der auf einem Gut in Hängeberg am Ammersee aufgewachsene gebürtige Bayer als Investor und beweist sein Gespür für große Ideen: Denn er ist es, der Page und Brin 100 000 Dollar als Startkapital zur Verfügung stellt, damit die beiden Studenten der Universität Stanford Google überhaupt gründen können.
Der Ort, an dem die Computerleidenschaft von Andreas von Bechtolsheim entstand, liegt aber nicht im Westen der USA, er liegt am Bodensee, in Wasserburg – am Esstisch der Familie Blümlein und in der Werkstatt der Firma Andron. 1968 zieht die Familie von Bechtolsheim nach Nonnenhorn am Bodensee, wo der damals Zwölfjährige über die Söhne des Andron-Chefs mit Wilhelm Blümlein Freundschaft schließt. Das Unternehmen, das 2009 der mittelhessische Maschinenbauer LTI Motion übernimmt, war damals auf Steuerungen für Werkzeugmaschinen spezialisiert, die in der Jugend von Andreas von Bechtolsheim noch mit einfachen Logic-Konzepten funktionierten, sodass für jeden Maschineneinsatz eine neue Steuerung programmiert werden musste. „Ich war aber überzeugt, dass ich eine Mikroprozessoren-Steuerung schreiben könnte“, erzählt von Bechtolsheim im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“.
Was der 17-Jährige dann schafft, ist eine kleine Sensation. Auf Basis eines Intel-8080-Prozessors entwickelt der Schüler einen Mikrocomputer zur Maschinensteuerung. „Es war der erste Mikroprozessor, der in Deutschland für industrielle Lösungen eingesetzt worden ist“, sagt Gerhard Zinke – und noch immer schwingt Hochachtung mit in seiner Stimme. Der heute 78 Jahre alte Ingenieur aus Kressbronn am Bodensee übernahm später die Andron-Geschäftsführung. „Den Prozessor für den Prototypen haben wir aus den USA einfliegen lassen und einem Händler am Flughafen in Zürich abgekauft, er hat 1500 Mark gekostet“, erinnert sich Zinke.
Das Unternehmen setzte die neuen Steuerungen erstmals in Stanzmaschinen ein, die für einen Kunden aus Russland bestimmt waren. Andreas von Bechtolsheim erhielt pro Gerät 100 Mark Lizenzgebühren und verdiente nach zwei Jahren mehr als sein Vater, der als Lehrer arbeitete. „Andreas kam als Gymnasiast zu uns, quasi in die Ausbildung, aber wie sich dann sehr schnell herausgestellt hat, hat er uns ausgebildet“, sagt Zinke.
Andreas von Bechtolsheim nennt diese Zeit „eine der intensivsten Phasen meines Lebens“. Er habe alles drangesetzt, genau zu verstehen, wie Computer funktionieren. Weil es keine Bücher gab, bestellte er sich in den USA Schaltpläne, um diese in allen Einzelheiten zu studieren. „Das war totale Faszination, ich machte Nächte durch und schrieb und tüftelte – und ging nebenbei zur Schule“, erzählt er.
Für eine seiner weitreichendsten Entscheidungen braucht Andreas von Bechtolsheim dagegen kaum eine halbe Stunde, kein nächtelanges Grübeln oder Zaudern. 1998, zu einem Zeitpunkt, als Andreas von Bechtolsheim mit seiner ersten Firma Sun im Silicon Valley bereits Millionen verdient hat, stellt ihm David Cheriton, ein befreundeter Professor der Stanford-Universität, zwei Studenten vor, die ihr Studium abbrechen und ein Unternehmen gründen wollen: Larry Page und Sergey Brin. Ihre Idee: Eine Suchmaschine, die die gesuchten Internetseiten in der Rangfolge anzeigt, wie oft die Seiten verlinkt sind, sodass die relevantesten Seiten oben stehen. Dazu arbeiten sie an dem Geschäftsmodell, das die Suche nach Inhalten mit Werbung verknüpft, die genau zu den Inhalten passt.
„Das war die beste Idee, die ich jemals gesehen habe.“Andreas von Bechtolsheim über das Konzept der Google-Gründer
„Das war die beste Idee, die ich jemals gesehen habe“, erinnert sich von Bechtolsheim. „Ich war so begeistert, dass ich den beiden noch am selben Abend einen Scheck ausgestellt habe.“Dabei hatten die beiden GoogleErfinder keine Präsentation, keinen Business-Plan, sie hatten einfach nur einen Laptop und eine Testversion ihrer Suchmaschine dabei, die sie Andreas von Bechtolsheim auf der Veranda von David Cheritons Haus in Palo Alto präsentierten. Die Firma Google gab es damals noch nicht. Von Bechtolsheim stellte den Scheck deshalb auf „Google Inc.“aus, sodass Page und Brin die Firma wirklich gründen mussten, um das Geld zu bekommen. „Wie bedeutsam und profitabel das werden würde, konnte ich aber damals noch nicht abschätzen.“Noch immer hält Andreas von Bechtolsheim Anteile an Google, eine Investition, die sich längst ausgezahlt hat.
Andere hätten Page und Brin die 100 000 Dollar vielleicht nicht gegeben, sie erst einen genauen Investitionsplan schreiben und Marktanalysen einholen lassen. Andreas von Bechtolsheim fordert das nicht, er ist von Anfang an fasziniert und von Grund auf optimistisch – eine Haltung, die sich nicht zuletzt auf seine Erfolge am Bodensee bei Andron gründet, die am Anfang seiner Karriere standen. „Die Zuversicht, die ich später im Leben hatte, ist aus dieser Erfahrung erwachsen“, sagt von Bechtolsheim, der verheiratet ist, eine Tochter hat und im Silicon Valley lebt. „Die Entwicklung der Andron-Steuerung hat mir gezeigt: Wenn man etwas wirklich will, kann man es auch erreichen.“
Und das ist zeit seines Lebens der Antrieb von Bechtolsheims gewesen. Sein Studium an der Universität München gibt er nach kurzer Zeit auf – für den Computerfreak war es eine einzige Enttäuschung: Den einzigen Rechner des Lehrstuhls durften nur Studenten des dritten Semesters benutzen. Von Bechtolsheim bewirbt sich um ein Fulbright-Stipendium in den USA. In Pittsburgh studiert er von 1975 an Informatik und macht im Alter von 20 Jahren seinen Master. „Aber schon da war klar, dass die entscheidende Entwicklung von Computern im Silicon Valley stattfindet“, erzählt er.
Andreas von Bechtolsheim wechselt an die Universität Stanford und arbeitet als Praktikant beim Druckerhersteller Xerox. „Gehalt habe ich keines bekommen, aber das Unternehmen hatte damals den ersten echten Personalcomputer mit Grafik, Netzwerk und Bildschirm“, sagt der 63-Jährige. „Ich durfte mit dem Rechner arbeiten und sollte Feedback geben.“In dieser Zeit entwickelt Andreas von Bechtolsheim die PC-Idee, also eines von Zentralcomputern unabhängigen Kleinrechners, für sich weiter. Er schreibt ein Computerprogramm zur Planung von Schaltkreisen und baut mangels Hardware eigene Rechner. Das Projekt nennt er nach seiner Uni: Stanford University Network – abgekürzt Sun.
Gemeinsam mit Bill Joy, Vinod Kholsa und Scott McNealy gründet Andreas von Bechtolsheim 1982 das Unternehmen Sun – und baut autonom arbeitende Arbeitsplatzrechner für Firmenkunden und Ingenieure. „Es war der erste 32-Bit-Mikroprozessor-Rechner,
„Künstliche Intelligenz wird die Gesellschaft verändern wie nichts jemals zuvor.“Andreas von Bechtolsheim über die Umbrüche der nächsten Jahre
er hatte eine bessere Leistung als alle Computer, die damals hergestellt wurden“, sagt von Bechtolsheim. „Zudem war er billiger.“Und vor allem erfolgreicher: An der Börse sei Sun damals das nach Umsatz am schnellsten wachsende Unternehmen der Welt gewesen. „Von null bis eine Milliarde Umsatz in weniger als fünf Jahren“, erzählt er. Es war von Bechtolsheims Durchbruch.
1995 scheidet Andreas von Bechtolsheim bei Sun aus, gründet Granite Systems, um weiter an seiner Vision von schnellen Netzwerken zu arbeiten. Bereits ein Jahr später kauft Cisco das unmittelbar erfolgreich gewordene Start-up für 220 Millionen Dollar. Über Kealia, eine weitere selbst gegründete Firma, kehrt von Bechtolsheim kurzzeitig zu Sun zurück, bevor der US-Konzern Oracle das Unternehmen und damit auch die von Sun entwickelte Programmiersprache Java 2010 übernimmt. Zu dem Zeitpunkt beschäftigt sich von Bechtolsheim allerdings bereits wieder mit einer neuen Firma: Das von ihm 2004 gegründete Unternehmen Arista entwickelt Cloud-Systeme und schnelle Netzwerktechnik. Seit 2014 an der Börse ist Arista mittlerweile mehr als 14,5 Milliarden Euro wert – und von Bechtolsheim hält immer noch mehr als 17,5 Prozent der Anteile.
Besucher aus seiner alten Heimat empfängt der Elder Statesman der IT schon lange nicht mehr in Birkenstocks. Wenn Gruppen, wie im vergangenen Jahr die Delegation von BadenWürttembergs Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut, in die Arista-Zentrale nach Santa Clara im Silicon Valley pilgern, nimmt sich von Bechtolsheim, der als Verwaltungsratspräsident und verantwortlicher Entwicklungsvorstand noch immer maßgeblich die Geschicke des Netzwerkspezialisten bestimmt, Zeit. So bodenständig und zurückhaltend der 63-Jährige sich gibt, so unbequem sind die Wahrheiten, die er seinen Gästen mit auf den Weg gibt. Denn die Fragen sind immer die gleichen: Kann Deutschland, kann Europa jemals den Vorsprung des Silicon Valley aufholen?
Andreas von Bechtolsheim ist skeptisch, zu akademisch das Uni-System, zu wenig ausgerichtet auf angewandte Forschung, allenfalls in der Autoindustrie und in der Medizintechnik sei die deutsche und europäische Industrie im Softwarebereich wettbewerbsfähig. Und die größten Veränderungen liegen nach Meinung von Bechtolsheims noch vor der Menschheit: „Künstliche Intelligenz wird die Gesellschaft verändern wie nichts jemals zuvor“, sagt von Bechtolsheim. Google, Facebook, Microsoft, Apple und Amazon als größte ITUnternehmen der Welt investierten jetzt schon mit Abstand am meisten in diese Zukunftstechnologie. „Und wer die Innovation vorantreibt, wird das größte Wachstum haben“, erläutert er. „Diese Entwicklung kann man nicht verlangsamen, es geht nur darum, wer am schnellsten ist.“
Gerhard Zinke, den früheren Andron-Geschäftsführer vom Bodensee, würde es nicht wundern, wenn Andreas von Bechtolsheim recht behält. „Er hat die digitale Entwicklung fast prophetisch vorausgesehen“, sagt der 78-Jährige. „Schon damals hat er von Dingen wie der Vernetzung von Menschen und Maschinen gesprochen.“Damals vor mehr als 45 Jahren an einem Esszimmertisch in Wasserburg am Bodensee.
Das Leben des Pioniers in Bildern unter www.schwäbische.de/sun