Den großen Wurf hat Österreichs neue Regierung verpasst
ie Koalition aus ÖVP und FPÖ in Österreich besteht seit einem Jahr. Der große Reformwurf ist ausgeblieben. Das politische Klima ist im ersten Jahr der rechtskonservativen Regierung deutlich rauer geworden. Nicht zuletzt, weil das Thema Ausländer/Migration nach wie vor dominiert.
Laut neuer Umfrage schenken 60 Prozent der stimmberechtigten Bürger Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) ihr Vertrauen, er ist der derzeit beliebteste Politiker. Er profitiert auch stark von dem Umstand, dass in seinem ersten Regierungsjahr die Konjunktur brummte und der Opposition eine charismatische Führungsfigur fehlt.
Gleichwohl ist die Kritik, die Opposition und Medien an der konservativen ÖVP und der Rechtspartei FPÖ von Vizekanzler Heinz-Christian Strache üben, beachtlich: Abbau des Rechtsstaates, Missachtung des Parlaments, Machtmissbrauch, Dialogverweigerung, soziale Kälte, die Kaltstellung der berühmten Sozialpartnerschaft sowie Versagen in der Integrationspolitik. Doch wiegen die Vorwürfe bei vielen Österreichern weniger schwer als öffentlich ausgetragener innerkoalitionärer Dauerstreit, der die rot-schwarze Vorgängerregierung so verhasst gemacht hatte. Kurz nutzte die Stimmung und gab von Anfang an die banale Losung aus: „Wir streiten nicht, wir arbeiten“. Das reichte der Mehrheit der Bevölkerung als Leistungsnachweis.
Es mag bei Kurz’ Redegewandtheit paradox klingen, wenn seinetwegen erneut der „Schweigekanzler“zum Wort des Jahres in Österreich gewählt wurde. Diesen ehrenhaften Titel bekam erstmals 2005 Wolfgang Schüssel verpasst, der Kanzler der ersten schwarz-blauen Koalition. Kurz erhielt den Spottnamen, weil er konsequent bei unangenehmen Problemen schweigt und heiklen Diskursen auszuweicht. Kurz’ Schweigen über Fehltritte der Strache-Partei ist längst zu seinem Markenzeichen geworden. Auszubildende abgeschoben Kurz schweigt auch, wenn FPÖ-Politiker sich immer wieder des NS-Jargons bedienen. Strache-Intimus Herbert Kickl, seines Zeichens Bundesinnenminister, kündigte an, Asylwerber an einem bestimmten Ort „konzentriert zu halten“. Die Assoziation zu Konzentrationslagern ließ sich auf Facebook-Seiten nachlesen. Die Flüchtlingspolitik führte bereits zu Protesten innerhalb der Kurz-Partei, namentlich bei den ÖVP-Landesregierungen in Tirol und Vorarlberg. Sie richten sich besonders gegen die Abschiebungen von Lehrlingen während ihrer Ausbildung oder jungen Ausländern, die einen Arbeitsplatz haben. Die Wirtschaft, die an Fachkräftemangel leidet, reagiert mit Unverständnis. Überhaupt ist der Eindruck entstanden, die Mittel für Integration werden nur deshalb gekürzt, weil dies bei der Bevölkerung gut ankommt.
Kurz überzeugte bislang auch nicht mit politischen Reformen. So wurde die Reform des Sozialversicherungssystems von der Opposition als Flickwerk zerrissen. Auch Experten des Rechnungshofes bezweifeln stark, ob die Regierung das Versprechen wird halten können, eine Milliarde Euro einzusparen. Vom Ziel des schlanken Staates sind bislang nicht einmal Ansätze sichtbar.
Gewerkschaften werfen der Regierung vor, die Sozialpartnerschaft praktisch aufgekündigt und mit ihrer Mehrheit im Parlament liberalere Arbeitszeiten und eingeschränkte Arbeitnehmerrechte durchgedrückt zu haben. Auf Dauer sehen Experten den sozialen Frieden gefährdet.