Im Kopf des Visionärs
Baubürgermeister Willi Kamm verabschiedet – Er leidet an einem Gehirntumor
TUTTLINGEN - Nach zwölf Jahren ist Willi Kamm, 63, am Montag als Baubürgermeister der Stadt Tuttlingen verabschiedet worden. Der Grund: eine schwere Krankheit. Ein Blick zurück.
Es ist Anfang Dezember 2017. Willi Kamm, Baubürgermeister der Stadt Tuttlingen, soll ein Adventskonzert eröffnen. Ein Gedicht will er rezitieren, „Der 13. Monat“von Erich Kästner. „Eigentlich kann ich das auswendig“, sagt er rückblickend. Aus irgendeinem Grund ist er diesmal unsicher, nimmt den Text mit. „Ich hab dann versucht, gleichzeitig zu lesen und vorzutragen und das hat überhaupt nicht mehr funktioniert“, erinnert sich Kamm.
Einige Tage später, in einem Gespräch mit Dezernentenkollege Emil Buschle, merkt Kamm, dass etwas nicht mit ihm stimmt. Der Neurologe, den Buschle anruft, erinnert sich an das Adventskonzert, bei dem er im Publikum saß. Kurz darauf steht die Diagnose fest: Gehirntumor. Kategorie vier, Todesdiagnose In der Fachsprache heißt das Gewächs, das sich in Kamms Kopf schon gefährlich weit ausgebreitet hat, Glioblastom. In Kategorie vier ANZEIGEN stuft die Deutsche Krebsgesellschaft den Tumor ein – eigentlich eine sichere Todesdiagnose. Andere hätten panisch reagiert, Kamm bleibt rational, zögert nicht: „Mir war klar, das Ding muss raus, die Operation muss so schnell wie möglich sein“, sagt er. Noch zur Weihnachtszeit liegt er auf dem OP-Tisch. Sieben Stunden arbeiten Spezialisten in der Neuroklinik in Günzburg an ihm, versuchen, soviel Tumor zu entfernen wie irgendwie möglich. Parallel testen sie alle Körperfunktionen des Patienten, um sicherzustellen, dass sie nichts beschädigen.
„Ich hätte erblinden können“, weiß Kamm. Stattdessen wacht er aus der Vollnarkose mit einem Muskelkater auf, „als käme ich gerade vom Fußballspiel vom Betze“. Der gebürtige Pfälzer schmunzelt. Die Schmerzen rücken in den Hintergrund, als er feststellt: Er kann sprechen, sich normal unterhalten und sogar schreiben. „Das ist eigentlich ein Wunder.“
Monate vergehen, in der sich zwei Chemotherapien und eine Reha anschließen. Ganz verschwinden wird der Tumor dabei nicht, das macht sich bemerkbar. „Mein Kurzzeitgedächtnis ist ziemlich ramponiert“, sagt Kamm noch ein Jahr nach der OP. Augen und Finger kommunizieren nicht mehr so widerspruchslos wie zuvor. PIN-Nummern fehlerfrei einzutippen, ist ihm anfangs fast unmöglich. Einfache Aufgaben wie Anziehen oder Kochen fordern ihn heute bis zur Erschöpfung. Auch das Lesen klappt kaum noch. Den Kopf voller Projekte Aber: Die Ideen in Kamms Kopf sprühen. Dinge, die er noch nicht verwirklicht hat, noch tun will, hält er auf Papier fest, handschriftlich schreiben klappt gut. Auch vergangene Projekte gehen ihm durch den Kopf. Alles muss raus, er telefoniert viel. Fast zu viel, sagen Freunde. Auch wenn Ärzte ihm nicht mehr viel Lebenszeit geben, will er noch viel umsetzen. Er verschließt nicht die Augen vor der Prognose, sagt er er. Aber was ist die Alternative? Depression? „Ich bin froh, dass mir das erspart geblieben ist.“Auch, weil er offen mit seiner Krankheit umgeht – es ist für ihn der einzige Weg.
Im Sommer sagt der Physiotherapeut zu ihm: „Du musst dich vom Kopf auf die Beine stellen.“Auch Freunde raten ihm, sich auf sich selbst zu konzentrieren. Kamm fällt die Entscheidung, nicht mehr in seinen Beruf zurückzukehren. Am 30. November scheidet er offiziell aus dem Dienst aus.
Ein Jahr nach der Diagnose, am Tag seiner Verabschiedung aus dem Tuttlinger Rathaus, kommt er mit dem Rollator zum Gespräch in die Redaktion. Das Cortison, das den Tumor in Schach hält, lässt seinen Körper aufgedunsen aussehen.
Im Kopf aber ist Kamm völlig klar und im Reinen mit sich selbst. Er blickt nach vorn, will sich weiter in der Stadtentwicklung einbringen. Wenn er dennoch zurückschaut, dann nicht mit Wehmut. „Ich habe immer versucht, zu vermitteln, mit allen im Gespräch zu bleiben und dabei einen gemeinsamen Weg zu finden“, sagt er. Ein Ideengeber, viele Kritiker Er war und ist der Ideengeber, der Visionär. In der Umsetzung der Projekte aber mangelte es, sagen seine Kritiker. Vielleicht hätte er manchmal härter sein sollen, ist er selbstkritisch. Aber: „Ich wollte meine Ideen nie gegen alle Widerstände durchboxen.“Konflikte in der Stadtverwaltung und im Gemeinderat hat Kamm oft zu spüren bekommen. Nicht alle seine Ideen stießen auf Gegenliebe. Aber er wollte nie Leute gegeneinander ausspielen. Lieber habe er Kompromisse gesucht, sagt er.
Heute ist er auf einiges in Tuttlingen stolz, das unter seiner Ägide entstanden ist. Die Ludwig-Uhland-Realschule, seine erste große Aufgabe. Dann die Entwicklung der Stadt, sei es in der Nordstadt oder aktuell am Bahnhof und im Gewerbegebiet Gänsäcker. Die Erweiterung steht dort endlich bevor. Eine Erfolgsgeschichte, glaubt Kamm. „Wir haben einen Weg gefunden, den viele mittragen.“
Was jetzt noch kommt? Vieles, hofft Kamm. Sein Steckenpferd ist die Donau. Black to Black, das Motto, er sucht die Vernetzung vom Schwarzwald ans Schwarze Meer. In Möhringen hat er sich eine Werkstatt eingerichtet. Jeder, der ein soziales oder kulturelles Projekt anschieben will, ist bei ihm willkommen. Nach zwölf Jahren als Baubürgermeister ist Tuttlingen seine Heimat, auch wenn seine Familie in Ulm wohnt. Deshalb ist er nach wie vor überzeugt: „Ich will alles machen, was die Stadt voranbringt.“