Trossinger Zeitung

Werden alle Kinder Autisten?

Podiumsdis­kussion z zeigt neue Perspektiv­en

- Von Nele Fauser

TUTTLINGEN - Die Digitalisi­erung ist nicht mehr aufzuhalte­n. Werden deshalb, weil digitale und soziale Kompetenz möglicherw­eise in einem Konflikt miteinande­r stehen, alle Menschen zu Autisten? Mit dieser Frage hat sich eine Podiumsdis­kussion am Donnerstag im Evangelisc­hen Gemeindeha­us Tuttlingen beschäftig­t.

Kindergärt­nerin Christine Bass stellte zu Beginn klar, dass die Digitalisi­erung bereits in den Kindergart­en Einzug gehalten hat. „Wir arbeiten mit digitalen Bilderbüch­ern und einem iPad.“Trotzdem stünde das gesamte Team dieser Mediennutz­ung eher verhalten gegenüber. „Wir benutzen lieber Hörspiele, Bücher oder CDs.“Fragwürdig findet Bass, dass einige Kinder schon ferngesehe­n haben, bevor sie in den Kindergart­en kommen. „Wir merken schon, dass mehr Kinder Sprachprob­leme haben. Auch bei Kindern mit deutschen Wurzeln“, sagt Bass. Sie legt Wert darauf, mit den Kindern das „Umfeld zu leben“, rauszugehe­n und die Natur kennenzule­rnen.

Auch der Kinderarzt Dr. Johannes Röhrenbach sieht Schwierigk­eiten in der übermäßige­n Mediennutz­ung, die vor allem die Sprachkenn­tnisse beeinträch­tigen. „Sprache ist elementar und Sprachprob­leme führen oft zu kognitiven Problemen“, erklärte er. Dabei können Handys zu Blockaden zwischen Babys und ihren Eltern führen. „Viele Eltern gehen mit ihrem Kind durch die Innenstadt und schauen dabei nur auf das Handy.“Auch körperlich­e Beeinträch­tigungen sieht er als Risiko, wenn die Kinder und Jugendlich­en häufig zu Hause vor dem Bildschirm sitzen. Es sei nachgewies­en, dass Schulleist­ungen durch übermäßige Nutzung abnehmen und das Risiko für Fettleibig­keit oder ähnliche Krankheite­n steigen können. „Es gibt auch positive Einsatzmög­lichkeiten der modernen Medien. Digitale Medien auch nützlich Dr. Frieder Böhme, der in seiner Arbeit als Psychother­apeut viel Erfahrung im Umgang mit jungen Menschen sammeln konnte, hält die Digitalisi­erung nicht für problemati­sch. „Zwar haben sich die psychosozi­alen Fähigkeite­n mit der Digitalisi­erung verändert. Die Frage, ob unsere Kinder jetzt alle zu Autisten werden, kann ich ganz klar mit nein beantworte­n“, stellte er klar. Böhme hält einen Großteil der Jugendlich­en für gesunde junge Menschen, die digitale Medien in einer für sie nützlichen Weise einsetzen. Er meint, das digitale Medien nicht krank machen, „sonst müssten wir eine ganze Generation psychisch gestörter Menschen haben“, erklärte der Neurologe.

Ein größeres Risiko sieht Böhme bei Babys und Kleinkinde­rn. Diese könnten durch Medien emotional und kognitiv eingeengt und ihre Entwicklun­g verzögert werden. Was bei Kleinkinde­rn und Jugendlich­en entscheide­nd sei, ist die kognitive Empathie, die autistisch­en Menschen fehle. „Andersheru­m können autistisch­e Jugendlich­e einen großen Nutzen aus den neuen Medien ziehen, da sie ihnen neue Möglichkei­ten der Kommunikat­ion bieten, die ihnen sonst schwer fällt“, beschrieb Böhme. Digitalisi­erung mache aber keinesfall­s krank: „Auf die Dosis kommt es an.“

Aber kann es nicht auch einen positiven, bildungsor­ientierten Nutzen geben? Nur bedingt, findet Kinderarzt Röhrenbach: „Ein normales Puzzle fühlt sich anders an. Das Kind kann es von allen Seiten sehen und fühlen. Das bietet eine andere Qualität der Erfahrung als etwa auf einem Tablet.“Er hält gut ausgebilde­te Lehrer, Erzieher und Pädagogen für wichtiger als Tablets und Laptops. Druck, mithalten zu müssen In der folgenden offenen Diskussion beschrieb ein Vater den sozialen Druck, mithalten zu müssen. „Es muss zwar nicht sein. Trotzdem kann Ausgrenzun­g entstehen, sogar unbeabsich­tigt“, erklärte Bass. Sie meinte, es komme darauf an, wie Jugendlich­e abgesehen von Smartphone und Tablet in der Lage seien, zu kommunizie­ren. Es sei die Aufgabe der Eltern, präventiv mit ihren Kindern darüber zu sprechen und ein Bewusstsei­n für die Medien zu schaffen. Der Tipp von Bass an besorgte Eltern ist: „Es ist deren Aufgabe, die Welt für Kinder erfahrbar zu machen. Die Jugendlich­en sollen, können und müssen irgendwann mit den Medien umgehen. Es ist am besten, wenn sie das in einem gesunden Maße von ihren Eltern lernen.“

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FOTO: NELE FAUSER Sehen nicht nur Positives an Handy & Co: Dr. Frieder Böhme, Pfarrer Johannes Wischmeyer, Kindergärt­nerin Christine Bass und Kinderarzt Dr. Johannes Röhrenbach (von links)

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