Werden alle Kinder Autisten?
Podiumsdiskussion z zeigt neue Perspektiven
TUTTLINGEN - Die Digitalisierung ist nicht mehr aufzuhalten. Werden deshalb, weil digitale und soziale Kompetenz möglicherweise in einem Konflikt miteinander stehen, alle Menschen zu Autisten? Mit dieser Frage hat sich eine Podiumsdiskussion am Donnerstag im Evangelischen Gemeindehaus Tuttlingen beschäftigt.
Kindergärtnerin Christine Bass stellte zu Beginn klar, dass die Digitalisierung bereits in den Kindergarten Einzug gehalten hat. „Wir arbeiten mit digitalen Bilderbüchern und einem iPad.“Trotzdem stünde das gesamte Team dieser Mediennutzung eher verhalten gegenüber. „Wir benutzen lieber Hörspiele, Bücher oder CDs.“Fragwürdig findet Bass, dass einige Kinder schon ferngesehen haben, bevor sie in den Kindergarten kommen. „Wir merken schon, dass mehr Kinder Sprachprobleme haben. Auch bei Kindern mit deutschen Wurzeln“, sagt Bass. Sie legt Wert darauf, mit den Kindern das „Umfeld zu leben“, rauszugehen und die Natur kennenzulernen.
Auch der Kinderarzt Dr. Johannes Röhrenbach sieht Schwierigkeiten in der übermäßigen Mediennutzung, die vor allem die Sprachkenntnisse beeinträchtigen. „Sprache ist elementar und Sprachprobleme führen oft zu kognitiven Problemen“, erklärte er. Dabei können Handys zu Blockaden zwischen Babys und ihren Eltern führen. „Viele Eltern gehen mit ihrem Kind durch die Innenstadt und schauen dabei nur auf das Handy.“Auch körperliche Beeinträchtigungen sieht er als Risiko, wenn die Kinder und Jugendlichen häufig zu Hause vor dem Bildschirm sitzen. Es sei nachgewiesen, dass Schulleistungen durch übermäßige Nutzung abnehmen und das Risiko für Fettleibigkeit oder ähnliche Krankheiten steigen können. „Es gibt auch positive Einsatzmöglichkeiten der modernen Medien. Digitale Medien auch nützlich Dr. Frieder Böhme, der in seiner Arbeit als Psychotherapeut viel Erfahrung im Umgang mit jungen Menschen sammeln konnte, hält die Digitalisierung nicht für problematisch. „Zwar haben sich die psychosozialen Fähigkeiten mit der Digitalisierung verändert. Die Frage, ob unsere Kinder jetzt alle zu Autisten werden, kann ich ganz klar mit nein beantworten“, stellte er klar. Böhme hält einen Großteil der Jugendlichen für gesunde junge Menschen, die digitale Medien in einer für sie nützlichen Weise einsetzen. Er meint, das digitale Medien nicht krank machen, „sonst müssten wir eine ganze Generation psychisch gestörter Menschen haben“, erklärte der Neurologe.
Ein größeres Risiko sieht Böhme bei Babys und Kleinkindern. Diese könnten durch Medien emotional und kognitiv eingeengt und ihre Entwicklung verzögert werden. Was bei Kleinkindern und Jugendlichen entscheidend sei, ist die kognitive Empathie, die autistischen Menschen fehle. „Andersherum können autistische Jugendliche einen großen Nutzen aus den neuen Medien ziehen, da sie ihnen neue Möglichkeiten der Kommunikation bieten, die ihnen sonst schwer fällt“, beschrieb Böhme. Digitalisierung mache aber keinesfalls krank: „Auf die Dosis kommt es an.“
Aber kann es nicht auch einen positiven, bildungsorientierten Nutzen geben? Nur bedingt, findet Kinderarzt Röhrenbach: „Ein normales Puzzle fühlt sich anders an. Das Kind kann es von allen Seiten sehen und fühlen. Das bietet eine andere Qualität der Erfahrung als etwa auf einem Tablet.“Er hält gut ausgebildete Lehrer, Erzieher und Pädagogen für wichtiger als Tablets und Laptops. Druck, mithalten zu müssen In der folgenden offenen Diskussion beschrieb ein Vater den sozialen Druck, mithalten zu müssen. „Es muss zwar nicht sein. Trotzdem kann Ausgrenzung entstehen, sogar unbeabsichtigt“, erklärte Bass. Sie meinte, es komme darauf an, wie Jugendliche abgesehen von Smartphone und Tablet in der Lage seien, zu kommunizieren. Es sei die Aufgabe der Eltern, präventiv mit ihren Kindern darüber zu sprechen und ein Bewusstsein für die Medien zu schaffen. Der Tipp von Bass an besorgte Eltern ist: „Es ist deren Aufgabe, die Welt für Kinder erfahrbar zu machen. Die Jugendlichen sollen, können und müssen irgendwann mit den Medien umgehen. Es ist am besten, wenn sie das in einem gesunden Maße von ihren Eltern lernen.“