Europa wird nicht gelebt
Die kommenden Tage und Wochen entscheiden über die Zukunft der Europäischen Union und über den Euro. Die Corona-Krise macht deutlich, welchen Fliehkräften Brüssel und die europäischen Institutionen ausgesetzt sind. West gegen Ost, Nord gegen Süd. Politisch nutzen osteuropäische Staaten wie Polen und Ungarn den Kampf gegen das Virus, um autoritäre Strukturen aufzubauen. Proteste vor allem von westeuropäischen Mitgliedsländern werden ignoriert, denn sie sind längst einkalkuliert.
Wirtschaftlich zerlegt sich die Union einmal mehr zwischen Nordund Südeuropa. Corona-Bonds lautet das Stichwort. Die vielbeschworene Einheit, die etwa bei den dramatischen Brexit-Verhandlungen zur Schau gestellt wurde, gibt es nicht. Im Euroraum stoßen Solidaritätsappelle ins Leere, viele zeigen auf die jeweils anderen oder fühlen sich schlichtweg im Stich gelassen. Europa wird nicht gelebt.
Wir stecken in der größten Krise nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dennoch streiten die europäischen Regierungen wie zu Beginn der Finanzmarktkrise 2008. Die Flüchtlingskrise 2015, die Gaspipeline Nord Stream2, die unkoordinierten Corona-Grenzschließungen zeigen die Entsolidarisierung in Europa deutlich. Doch laufen lassen, ist keine Option. Ohne EU-Binnenmarkt wird auch das wirtschaftlich so starke Deutschland nicht die Wohlstandsverluste, die jetzt eintreten werden, wieder aufholen können.
Jetzt ist Angela Merkel gefordert, denn die Bundesrepublik ist der entscheidende Macht- und Gestaltungsfaktor in der EU. Finanzpolitisch muss sie dafür sorgen, dass der schwer getroffene europäische Süden Hilfen erhält, die der Lage gerecht werden. Ohne Solidarleistungen wird der Euro scheitern. Und politisch? Da muss sie dem Ungarn Victor Orbán, dem vermeintlichen Ziehsohn des großen europäischen Staatsmannes Helmut Kohl, schnellstens klarmachen, dass die EU eben anders als Russland oder China auf demokratischen Werten fußt. Autokraten, die das Parlament entmachten, haben dort nichts zu suchen.
h.groth@schwaebische.de