„Ängste nicht abtun“
Felizitas Reyes über den Umgang mit Kindern und Jugendlichen während der Corona-Pandemie
TROSSINGEN - Schulen und Kindergärten sind geschlossen, Kinder und Jugendliche ans Haus gebunden. Wie Eltern sie während der CoronaKrise unterstützen können, darüber hat sich unsere Redakteurin Sabine Felker hat mit der Trossinger Kinderund Jugendlichenpsychotherapeutin Felizitas Reyes unterhalten.
Die Krise und ihre nicht absehbaren Folgen verunsichern derzeit nahezu jeden. Wie können Eltern ihren Kindern in dieser Zeit helfen?
Hilfreich ist es, die Perspektive des Kindes einzunehmen: Wie hat sich sein Alltag verändert? Wie fühlt es sich an, auf Kindergarten oder Schule, aber auch auf Oma und Opa verzichten zu müssen?
Die Kinder spüren, dass etwas nicht normal ist, denn sie reagieren sehr feinfühlig auf Veränderungen. Wichtig ist es, dass die Eltern im Gespräch offen und ehrlich mit dem Thema umgehen.
Gerade für jüngere Kinder sind die Eltern der Fels in der Brandung. Solange diese Ruhe ausstrahlen, sind die Kinder meist entspannt. Was aber, wenn man als Elternteil spürt, dass die Angst bei einem selbst droht Überhand zu nehmen?
GZuerst muss man sich bewusst machen, dass Angst etwas ganz Normales und Sinnvolles ist, da dieses Gefühl auf Gefahren hinweist. Wenn aber die Angst belastend wird, dann kann es schon helfen, sich mit anderen Erwachsenen auszutauschen und darüber zu sprechen, wie es einem mit der aktuellen Situation geht. Ganz wichtig ist es, dass man die eigenen Ängste nicht mit den Kindern bespricht, das kann sie emotional überfordern. Es kann auch helfen, wieder bewusst Normalität ins Leben zu holen. Statt sich den ganzen Tag mit dem Thema Coronavirus zu beschäftigen, kann man auch einer Beschäftigung nachgehen, die einem Freude macht, wie z.B. ein Buch lesen. Jeder von uns – egal ob Eltern oder nicht – muss darauf achten, sich nicht von den Meldungen bombardieren zu
Interview der Woche
lassen, sonst zehrt es an einem.
Ab welchem Punkt reichen solche Strategien nicht mehr aus?
Solange die Angst den Familienalltag nicht beherrscht, ist das in Ordnung. Wenn sie aber das Leben stark beeinträchtigt, wenn der betroffene Elternteil unter einer Angststörung leidet, dann sollte er professionelle Unterstützung suchen.
Was raten Sie Eltern, wie sie den Ängsten der Kinder begegnen können?
Auf jeden Fall sollte man darauf eingehen, die Ängste nicht abtun. Man kann sie fragen, was ihnen genau Angst macht und wie sich die Angst anfühlt. Je konkreter die Kinder ihre Ängste beschreiben, zum Beispiel auch bildlich vorstellen oder malen können, desto weniger bedrohlich werden sie. Gibt es etwas, was ihnen schon einmal geholfen hat, mit Angst umzugehen? Zum Beispiel ein Mut machender Gedanke oder ein Gegenstand, der als Schutzengel dient? Je mehr man sich mit der Angst auseinandersetzt, desto kleiner wird sie. Entspannende Aktivitäten können Kindern auch helfen, mit ihren Ängsten umzugehen. Die wichtigste Botschaft sollte sein: Jeder hat mal Angst und jeder kann lernen, mit Ängsten umzugehen.
Woran erkennen Eltern, dass ihre Kinder ernsthaft unter den Umständen leiden und Handlungsbedarf besteht? Was kann in der aktuellen Situation getan werden?
Kinder zeigen es ganz unterschiedlich, wenn es ihnen nicht gut geht., Manche Kinder verbalisieren es, manche zeigen Veränderungen in ihrem Verhalten. Wenn diese Auffälligkeiten sich über einen Zeitraum von mehreren Wochen zeigen, ist es sinnvoll, diese zum Beispiel von einem Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten abklären zu lassen. Bei Jungen und Mädchen, die ihre Freunde und den Kindergarten oder die Schule vermissen, kann der Kontakt zu Gleichaltrigen über Handy oder Video-Anrufe gehalten werden. Es gibt zum Beispiel auch digitale Sport- oder Musikstunden im Internet, die Kinder zur Bewegung oder zum Musik machen animieren und so wieder einen Programmpunkt liefern. Eltern können sich ganz konkret mit den Kindern gemeinsam ausmalen, wie es sein wird, wenn der Alltag zurück ist, und der Kindergarten wieder geöffnet hat. Jugendliche sind eher die Kandidaten, bei denen man übersieht, dass sie Probleme haben. Denn manche ziehen sich zurück. Da müssen die Eltern dran bleiben und zeigen, dass sie da sind und das Gespräch suchen. An gemeinsamer Zeit mangelt es in den meisten Familien derzeit nicht, so bieten sich hier neue Chancen der Kommunikation.
Die meisten Eltern versprechen ihren Kindern nur zu gerne: Alles wird gut. Darf man als Mutter oder Vater so etwas sagen, wenn man es selbst nicht so genau weiß, ob es stimmt?
Ich empfehle, mit einer offenen und ehrlichen Haltung den Kindern zu begegnen, da diese spüren, wenn Eltern nicht hinter dem stehen, was sie sagen. Es ist in Ordnung Kindern zu vermitteln, dass man als Eltern nicht weiß, was die Zukunft bringt.
Ich denke, die Botschaft „Gemeinsam schaffen wir es, diese Zeit zu meistern. Deine Eltern sind für dich da.“gibt den Kindern Halt und Sicherheit.
Weil Schulen und Kindergärten geschlossen haben, müssen die allermeisten Eltern das scheinbar Unmögliche schaffen: Die kleinen Kinder betreuen, den größeren bei den Schulaufgaben helfen und gleichzeitig der eigenen Erwerbstätigkeit nachgehen. Manche Familien haben deshalb Stundenpläne entwickelt, um dem Tag Struktur zu geben. Was halten Sie davon?
Das kann eine gute Idee sein. Wenn es möglich ist, können sich die Eltern absprechen, wann welcher Erwachsene für die Kinder da ist, damit dann der andere arbeiten kann. Kinder
ANZEIGE brauchen tatsächlich eine Struktur, an der sie sich orientieren können. Wie diese Struktur aussieht, das muss jede Familie für sich entscheiden – die einen brauchen mehr Strukturierungshilfen, wie z.B. einen Tagesplan mit Aktivitäten, die anderen weniger. Manche genießen es sicher auch, dass derzeit nicht alles in einem festen Zeitrahmen steckt, wie es sonst der Fall ist. Die derzeitige Ausnahmesituation schafft sicherlich Zeitfenster, in denen sich die Kinder selbst beschäftigen müssen. Zeit für das freie Spiel stärkt aber auch die Kreativität bei den Kindern. Und auch Eltern und Kinder haben hoffentlich mehr Zeit füreinander und können diese auch nutzen. So kann man als Familie wieder enger zueinander finden.
Enger Kontakt zu den Eltern ist den meisten Jugendlichen ein Graus. Besonders diese Altersklasse scheint schwer an dem Kontaktverbot zu knabbern zu haben. Wie können Eltern da positiv einwirken?
Ein typisches Merkmal des Jugendalters ist das Gefühl der Unverwundbarkeit. Im Gehirn verändert sich so viel, dass die Areale, die für vernünftiges Handeln zuständig sind, erst reifen müssen. Die eigenen Freunde zu treffen, das ist in diesem Alter sehr, sehr wichtig. Das steht natürlich alles im Gegensatz zu dem, was uns in der aktuellen Lage abverlangt wird. Druck auszuüben ist da oft kontraproduktiv. Ein Weg kann es sein, mit den Jugendlichen im Gespräch zu bleiben und im Hinterkopf zu behalten, wie immens wichtig soziale Kontakte für Teenager sind. Wenn Eltern es dann schaffen, ein Problembewusstsein bei den Jugendlichen zu wecken, dann ist schon viel erreicht. Je näher das Thema an die Lebenswirklichkeit der Jugendlichen herankommt, desto eher lassen sie sich darauf ein. „Die alte Bevölkerung“, die es zu schützen gilt, ist für Jugendliche weit entfernt - aber „Oma und Opa“bewegt sie viel mehr. Eltern müssen akzeptieren, dass Jugendliche selbständig sein wollen. Man kann sie mit Informationen ausstatten, ihre Meinung müssen sie sich aber selbst bilden. Ein 17-Jähriger trägt überwiegend die Verantwortung für sein Handeln selbst, damit müssen die Eltern zurechtkommen.