Johnson bastelt sich die Wahrheit
Knapp zwei Minuten brauchte der britische Premier Boris Johnson, um die Botschaft des möglichen „No Deal“an die Europäische Union, seine Landsleute und vor allem an die Brexit-Fans zu bringen. Die Augen flackerten, er wirkte etwas fahrig, letztendlich machte der konservative Hardliner den Eindruck eines getriebenen Pokerspielers. Der harte Bruch mit den Partnern auf dem europäischen Kontinent ist eine Möglichkeit, die seit langer Zeit von Politikern und Wirtschaftsbossen in Betracht gezogen wird. Neu ist das alles nicht. Schaden wird der Brexit allen, gleich auf welcher Seite des Ärmelkanals man sich befindet.
Letztendlich geht es nur um Schadensbegrenzung, wenn jetzt noch um eine Einigung gerungen wird. Doch es ist schwierig zu beurteilen, was der Exzentriker Johnson überhaupt will oder gar plant. Er bastelt sich seine Wahrheit in einer Art und Weise, dass angenommen werden könnte, er sei bei US-Präsident Donald Trump in die Lehre gegangen, wenn es darum geht, Behauptungen, Lügen, Realität und Mythen in einem politischen Konzept aufgehen zu lassen.
Als die Briten am 23. Juni 2016 mit 51,9 Prozent der Stimmbürger für den Austritt Großbritanniens aus der EU stimmten, stand eben nicht zur Debatte, dass dies vertragslos geschehen solle. Stück für Stück drückte Johnson die Konservativen nach rechts in die Kompromisslosigkeit. Er beherrscht vorzüglich das blame game, sprich die öffentliche Schuldzuweisung, wer denn nun für was die Verantwortung trägt. Selber übernehmen will er sie nicht, Ähnliches gilt ja auch für die Bekämpfung der Corona-Pandemie auf der Insel.
Wo Großbritannien und die EU stehen, wird sich in den kommenden Tagen zeigen. EU-Chefunterhändler Michel Barnier will in London an einer Lösung in buchstäblich allerletzter Minute arbeiten. Sollte Barnier an die Themse reisen, ist das ein gutes Zeichen, je länger er bleibt, umso besser. Johnson, der alle Schuld Brüssel zuschanzt, wird reden müssen. Denn sonst brechen seine ganzen Erzählungen für jeden klar erkennbar – auch in seinem Lager – in sich zusammen.
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