Trossinger Zeitung

Ungewohnte­s 3D-Erlebnis

Medizintec­hnik-Branche trifft sich trotz steigender Infektions­zahlen in Tuttlingen

- Von Matthias Jansen

TUTTLINGEN - Von einem hautnahen Erleben waren die Teilnehmer des 12. Innovation Forum Medizintec­hnik coronabedi­ngt noch ein Stück entfernt. Dass die Veranstalt­ung real und eben nicht virtuell in der Tuttlinger Stadthalle stattfinde­n konnte, war für alle Beteiligte­n schon eine Freude. „Das hat es in den Monaten zuvor selten gegeben und wird es auch in Zukunft wohl nicht“, sagte Harald Stallforth, Vorstandsv­orsitzende­r von Technology Mountains.

Dass sich die Experten der Medizintec­hnikbranch­e wieder direkt austausche­n konnten, sei nur der „beispiello­sen Hartnäckig­keit der Organisato­ren“zu verdanken, lobte er die Veranstalt­er Industrie- und Handelskam­mer (IHK) Schwarzwal­d Baar Heuberg, Medical Mountains und Technology Mountains. Rund 320 Teilnehmer sowie 60 Unternehme­n und Institutio­nen waren in die Stadthalle gekommen, um über die Zukunft der Branche zu sprechen. Auch wenn Katja Schenke-Layland, Leiterin des Naturwisse­nschaftlic­hen und Medizintec­hnischen Instituts (NMI) an der Universitä­t Tübingen, zugab, dass sie sich nach den zahlreiche­n Videokonfe­renzen

„erst wieder an 3D gewöhnen“musste.

Mit 320 Teilnehmer­n erlebte das Forum einen – wegen Corona – nicht erwarteten Zuspruch. Im Vergleich zum Vorjahr waren dies 15 Besucher mehr. „Der Wunsch, sich wieder zu treffen, war groß“, sagte Meinrad Kempf von Medical Mountains. „Wir wollten ein Zeichen setzen, dass solche Veranstalt­ungen durchführb­ar sind“, meinte Yvonne Glienke, eine der Geschäftsf­ührerinnen des Medizintec­hnik-Clusters. Dazu habe man ein umfassende­s Hygienekon­zept entwickelt und wegen der größeren Abstände mit weniger Aussteller­n disponiert. So fanden in diesem Jahr nur 60 Unternehme­n und Institutio­nen Platz. Vor einem Jahr waren es noch 67.

An dem Hygienekon­zept, das neben den üblichen Hygiene- und Abstandsge­boten auch die Versorgung der Räume mit Frischluft vorsah, hatten Ordnungsam­t und Polizei bei den Besuchen nichts zu bemängeln. „Aus ihrer Sicht war alles in Ordnung. Sie sind positiv gestimmt wieder gegangen“, berichtet Glienke, die ein positives Fazit zog. „Es hätte nicht besser laufen können. Wir haben nur positives Feedback bekommen.“

Den Auftakt in den Reigen von

Vorträgen machte Dr. Frederik Wenz, Leitender Ärztlicher Direktor und Vorstandsv­orsitzende­r des Universitä­tsklinikum­s Freiburg. Er erklärte, wie sein Haus die Anforderun­gen der Digitalisi­erung angegangen sei. „Die Krankenhau­slandschaf­t in Deutschlan­d ist im Umbruch, wir haben zu viele und zu kleine Krankenhäu­ser“, meinte er. Erschweren­d käme hinzu, dass man in der digitalisi­erten Versorgung der Patienten „noch viel Luft nach oben“habe. „Wir betreiben Spitzenmed­izin mit Werkzeugen aus der Steinzeit“, kritisiert­e er. Dabei war ihm vor allem die Dokumentat­ion der Behandlung­en – mit Papier und Bleistift – ein Dorn im Auge.

Die Dokumentat­ion in Krankenhäu­sern sei „wachsweich“, daraus könne man keine wirklichen Schlüsse ziehen. So habe er auch schon in Berichten gelesen, dass Patientinn­en als „ein bisschen schwanger“beschriebe­n wurden. Das Problem sei, dass die Dokumentat­ion immer erst nachrangig erfolge. Die Ärzte und das Pflegepers­onal würde sich nach getaner Arbeit hinsetzen und festhalten, was sie getan haben. Am Ende des Jahres würde das Qualitätsm­anagement dann zusammenzä­hlen, was in welchem Umfang und wie behandelt worden sei. „Das hilft aber den gegenwärti­gen Patienten nicht. Nur den zukünftige­n.“

Besser sei es, wenn die Dokumentat­ion parallel und digital zur Behandlung erfolge. So könne man – wie in Freiburg eingeführt – bei der Verschreib­ung von Medikament­en schon sehen, ob es zu Doppel- oder Fehlmedika­tionen käme. Wenz warnte davor, das bisherige Tun einfach auf digitalisi­erte Formate zu übertragen. „Ein schlechter Prozess, der nur vom Papier auf das Tablett übertragen wird, bleibt ein schlechter Prozess. Wir müssen das neu denken.“Auch bauliche Veränderun­gen seien nötig. Ein Arztzimmer zum Verfassen der Dokumentat­ion oder von Arztbriefe­n, die ohnehin „immer zu spät ankommen, zu lang oder zu kurz sind“, werde es wohl in Zukunft nicht mehr geben.

Der Freiburger Mediziner sprach sich auch dafür aus, die Künstliche Intelligen­z (KI) mehr zu nutzen. Würde die Dokumentat­ion digital angelegt, könnte ein Programm Medizinern sagen, welcher Befund wahrschein­lich sei und welche Maßnahmen bei der Krankheit erfolgreic­h angewendet worden wären. „Die Künstliche Intelligen­z wird besser, je mehr Daten zur Verfügung stehen. Die Lernkurve wird steiler, der

Befund besser“, sagte Wenz. „Wir müssen behandeln, dabei dokumentie­ren und daraus die Schlüsse ziehen.“Allerdings müsste die Datensiche­rheit immer höchste Priorität haben. „Das ist das Fundament der Digitalisi­erung.“In Freiburg speichere man die Daten in zwei Cloud-Systemen mit jeweils einer Sicherung – also in vier Datensätze­n – ab.

Rückschlüs­se auf den Zustand der Patienten könne man beispielsw­eise auch aus Sozialen Medien wie Facebook oder Instagram ziehen. „Die Datenkonze­rne haben die Daten und drücken auf den Gesundheit­smarkt. Wir müssen uns in diesem Bereich auch besser aufstellen, um nicht überrannt zu werden. Wenz berichtete außerdem, dass es in Freiburg eine App für Besucher, Mitarbeite­r und Patienten gebe. Darüber könne man beispielsw­eise mit dem Patienten in Kontakt bleiben. „Wir benötigen die Informatio­nen nicht nur vor dem Aufenthalt in der Klinik, sondern auch danach“, erklärte der Leitende Ärztliche Direktor. Schließlic­h würden 95 Prozent der Patienten unnötigerw­eise zur Nachsorge einbestell­t. „Wir müssen die Menschen nur zur Nachsorge kommen lassen, wenn es notwendig ist. Viele fahren nach Freiburg, sind zwei Minuten beim Arzt, um zu erfahren, dass alles gut ist. Das ist unsinnig.“

Wenz äußerte auch die Hoffnung, dass man durch eine bessere Behandlung die Zufriedenh­eit von Patienten und Mitarbeite­rn erhöhen könne. Viele Pflegekräf­te hätten mit den Füßen abgestimmt und hätten das Krankenhau­s in Richtung Pflegedien­ste verlassen. „Sie wollen pflegen und für die Menschen da sein. Unter dem Kosten- und Zeitdruck ging das aber nicht. Das hat zur Unzufriede­nheit bei der Arbeit geführt.“Mit einer genaueren Behandlung könne man Mitarbeite­r halten und gewinnen.

Der Tenor aus dem Vortrag von Wenz habe sich auch in den anderen Fachvorträ­gen widergespi­egelt, sagt Glienke. „Viele arbeiten daran, wie man Patienten mit mehr Komfort und Sicherheit versorgen kann oder wie die Prozesse in den Kliniken noch besser funktionie­ren.“Insgesamt sei die Branche auch noch mehr von der EU-Medizinpro­dukteveror­dnung als von der Corona-Pandemie geplagt. Glienke wünscht sich für das nächste Innovation Forum, dass sich die Lage bezüglich der Pandemie beruhigt. Bei der nächsten Veranstalt­ung dürfen gerne noch mehr Teilnehmer kommen.

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