Ungewohntes 3D-Erlebnis
Medizintechnik-Branche trifft sich trotz steigender Infektionszahlen in Tuttlingen
TUTTLINGEN - Von einem hautnahen Erleben waren die Teilnehmer des 12. Innovation Forum Medizintechnik coronabedingt noch ein Stück entfernt. Dass die Veranstaltung real und eben nicht virtuell in der Tuttlinger Stadthalle stattfinden konnte, war für alle Beteiligten schon eine Freude. „Das hat es in den Monaten zuvor selten gegeben und wird es auch in Zukunft wohl nicht“, sagte Harald Stallforth, Vorstandsvorsitzender von Technology Mountains.
Dass sich die Experten der Medizintechnikbranche wieder direkt austauschen konnten, sei nur der „beispiellosen Hartnäckigkeit der Organisatoren“zu verdanken, lobte er die Veranstalter Industrie- und Handelskammer (IHK) Schwarzwald Baar Heuberg, Medical Mountains und Technology Mountains. Rund 320 Teilnehmer sowie 60 Unternehmen und Institutionen waren in die Stadthalle gekommen, um über die Zukunft der Branche zu sprechen. Auch wenn Katja Schenke-Layland, Leiterin des Naturwissenschaftlichen und Medizintechnischen Instituts (NMI) an der Universität Tübingen, zugab, dass sie sich nach den zahlreichen Videokonferenzen
„erst wieder an 3D gewöhnen“musste.
Mit 320 Teilnehmern erlebte das Forum einen – wegen Corona – nicht erwarteten Zuspruch. Im Vergleich zum Vorjahr waren dies 15 Besucher mehr. „Der Wunsch, sich wieder zu treffen, war groß“, sagte Meinrad Kempf von Medical Mountains. „Wir wollten ein Zeichen setzen, dass solche Veranstaltungen durchführbar sind“, meinte Yvonne Glienke, eine der Geschäftsführerinnen des Medizintechnik-Clusters. Dazu habe man ein umfassendes Hygienekonzept entwickelt und wegen der größeren Abstände mit weniger Ausstellern disponiert. So fanden in diesem Jahr nur 60 Unternehmen und Institutionen Platz. Vor einem Jahr waren es noch 67.
An dem Hygienekonzept, das neben den üblichen Hygiene- und Abstandsgeboten auch die Versorgung der Räume mit Frischluft vorsah, hatten Ordnungsamt und Polizei bei den Besuchen nichts zu bemängeln. „Aus ihrer Sicht war alles in Ordnung. Sie sind positiv gestimmt wieder gegangen“, berichtet Glienke, die ein positives Fazit zog. „Es hätte nicht besser laufen können. Wir haben nur positives Feedback bekommen.“
Den Auftakt in den Reigen von
Vorträgen machte Dr. Frederik Wenz, Leitender Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Freiburg. Er erklärte, wie sein Haus die Anforderungen der Digitalisierung angegangen sei. „Die Krankenhauslandschaft in Deutschland ist im Umbruch, wir haben zu viele und zu kleine Krankenhäuser“, meinte er. Erschwerend käme hinzu, dass man in der digitalisierten Versorgung der Patienten „noch viel Luft nach oben“habe. „Wir betreiben Spitzenmedizin mit Werkzeugen aus der Steinzeit“, kritisierte er. Dabei war ihm vor allem die Dokumentation der Behandlungen – mit Papier und Bleistift – ein Dorn im Auge.
Die Dokumentation in Krankenhäusern sei „wachsweich“, daraus könne man keine wirklichen Schlüsse ziehen. So habe er auch schon in Berichten gelesen, dass Patientinnen als „ein bisschen schwanger“beschrieben wurden. Das Problem sei, dass die Dokumentation immer erst nachrangig erfolge. Die Ärzte und das Pflegepersonal würde sich nach getaner Arbeit hinsetzen und festhalten, was sie getan haben. Am Ende des Jahres würde das Qualitätsmanagement dann zusammenzählen, was in welchem Umfang und wie behandelt worden sei. „Das hilft aber den gegenwärtigen Patienten nicht. Nur den zukünftigen.“
Besser sei es, wenn die Dokumentation parallel und digital zur Behandlung erfolge. So könne man – wie in Freiburg eingeführt – bei der Verschreibung von Medikamenten schon sehen, ob es zu Doppel- oder Fehlmedikationen käme. Wenz warnte davor, das bisherige Tun einfach auf digitalisierte Formate zu übertragen. „Ein schlechter Prozess, der nur vom Papier auf das Tablett übertragen wird, bleibt ein schlechter Prozess. Wir müssen das neu denken.“Auch bauliche Veränderungen seien nötig. Ein Arztzimmer zum Verfassen der Dokumentation oder von Arztbriefen, die ohnehin „immer zu spät ankommen, zu lang oder zu kurz sind“, werde es wohl in Zukunft nicht mehr geben.
Der Freiburger Mediziner sprach sich auch dafür aus, die Künstliche Intelligenz (KI) mehr zu nutzen. Würde die Dokumentation digital angelegt, könnte ein Programm Medizinern sagen, welcher Befund wahrscheinlich sei und welche Maßnahmen bei der Krankheit erfolgreich angewendet worden wären. „Die Künstliche Intelligenz wird besser, je mehr Daten zur Verfügung stehen. Die Lernkurve wird steiler, der
Befund besser“, sagte Wenz. „Wir müssen behandeln, dabei dokumentieren und daraus die Schlüsse ziehen.“Allerdings müsste die Datensicherheit immer höchste Priorität haben. „Das ist das Fundament der Digitalisierung.“In Freiburg speichere man die Daten in zwei Cloud-Systemen mit jeweils einer Sicherung – also in vier Datensätzen – ab.
Rückschlüsse auf den Zustand der Patienten könne man beispielsweise auch aus Sozialen Medien wie Facebook oder Instagram ziehen. „Die Datenkonzerne haben die Daten und drücken auf den Gesundheitsmarkt. Wir müssen uns in diesem Bereich auch besser aufstellen, um nicht überrannt zu werden. Wenz berichtete außerdem, dass es in Freiburg eine App für Besucher, Mitarbeiter und Patienten gebe. Darüber könne man beispielsweise mit dem Patienten in Kontakt bleiben. „Wir benötigen die Informationen nicht nur vor dem Aufenthalt in der Klinik, sondern auch danach“, erklärte der Leitende Ärztliche Direktor. Schließlich würden 95 Prozent der Patienten unnötigerweise zur Nachsorge einbestellt. „Wir müssen die Menschen nur zur Nachsorge kommen lassen, wenn es notwendig ist. Viele fahren nach Freiburg, sind zwei Minuten beim Arzt, um zu erfahren, dass alles gut ist. Das ist unsinnig.“
Wenz äußerte auch die Hoffnung, dass man durch eine bessere Behandlung die Zufriedenheit von Patienten und Mitarbeitern erhöhen könne. Viele Pflegekräfte hätten mit den Füßen abgestimmt und hätten das Krankenhaus in Richtung Pflegedienste verlassen. „Sie wollen pflegen und für die Menschen da sein. Unter dem Kosten- und Zeitdruck ging das aber nicht. Das hat zur Unzufriedenheit bei der Arbeit geführt.“Mit einer genaueren Behandlung könne man Mitarbeiter halten und gewinnen.
Der Tenor aus dem Vortrag von Wenz habe sich auch in den anderen Fachvorträgen widergespiegelt, sagt Glienke. „Viele arbeiten daran, wie man Patienten mit mehr Komfort und Sicherheit versorgen kann oder wie die Prozesse in den Kliniken noch besser funktionieren.“Insgesamt sei die Branche auch noch mehr von der EU-Medizinprodukteverordnung als von der Corona-Pandemie geplagt. Glienke wünscht sich für das nächste Innovation Forum, dass sich die Lage bezüglich der Pandemie beruhigt. Bei der nächsten Veranstaltung dürfen gerne noch mehr Teilnehmer kommen.