Gutachten nicht unbedingt widersprüchlich
In einem gilt der Tatverdächtige im Tuttlinger Mordfall als schuldfähig, im anderen nicht
TUTTLINGEN - Ein Tatverdächtiger, ein Gutachter und zwei gegensätzliche Bewertungen der Schuldfähigkeit: Die Recherchen unserer Zeitung zum 36-Jährigen, der Mitte September in der Tuttlinger Hermannstraße einen 52-Jährigen getötet haben soll, werfen Fragen auf. Warum wird der Mann bei einer anderen nur Monate zurückliegende Gewalttat als schuldfähig angesehen, während er bei der Tötung nun nicht zurechnungsfähig sein soll?
Auf Nachfrage unserer Zeitung hat sich das Landesjustizministerium geäußert. Man werde sich nicht zu Inhalten laufender Verfahren äußern, betont Sprecher Robin Schray. Schließlich sei das Ministerium selbst keine Strafverfolgungsbehörde und darf „nicht in die verfassungsrechtlich geschützte richterliche Unabhängigkeit eingreifen“.
Dennoch können die Erläuterungen helfen, den Eindruck zu widerlegen, beim ersten Gutachten des Sachverständigen, sei der 36-Jährige nicht richtig beurteilt worden. Zum Verständnis: Der des Mordes Verdächtigte hatte bis Anfang Juli in Rottweil in Untersuchungshaft gesessen, weil er seine Ehefrau in Emmingen-Liptingen tätlich angegriffen hatte. Der Vorwurf, es sei „Handlung gegen das Leben“und damit versuchter Totschlag, bestätigte sich in den Ermittlungen nicht.
Deshalb, so erläuterte es der Rottweiler Staatsanwalt Frank Grundke, habe die rechtliche Grundlage gefehlt, um den Mann mit tunesischer Staatsangehörigkeit in U-Haft zu belassen. Ein damals erstelltes Gutachten kam zu dem Schluss, dass der 36Jährige schuldfähig sei. Ob die Körperverletzung angeklagt wird, steht noch nicht fest. Es werde noch ermittelt, meint Grundke. Jedenfalls wurde der Tunesier nicht in eine psychiatrische oder Erziehungsanstalt eingewiesen und kam frei.
Nur zwei Monate nach der Entlassung aus der U-Haft soll er einen 52Jährigen in Tuttlingen getötet haben. Auch dort laufen die Untersuchungen noch. Das Brisante ist: In diesem Fall kam derselbe Gutachter zu dem Schluss, der Tatverdächtige sei nicht schuldfähig. Ein Widerspruch?
Nicht unbedingt. So ist jedenfalls die Antwort des Justizministeriums zu deuten. Darin heißt es: „Ein Gutachten eines psychiatrischen Sachverständigen kann sich immer nur auf die Tatsachen stützen, die zum
Zeitpunkt der Exploration (Ergründen von krankhaft psychologischen Problemen durch Befragung/Anm. d. Red.) bekannt sind.“Eine Bewertung könne sich ändern, wenn später weitere Sachverhalte, Tatumstände oder Hintergründe zu der Tat bekannt seien.
Die Gutachten, die zu dem Tatverdächtigen gestellt worden sind, seien - so lässt sich die Antwort des Justizministeriums deuten, ohne auf das aktuelle Verfahren einzugehen - ohnehin nur vorläufig.
„In der Regel“müsse durch die Begutachtung von der Staatsanwaltschaft entschieden werden, ob eine Untersuchungshaft ausreicht oder ob eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Erziehungsanstalt angebracht ist. „Das abschließende Gutachten kann sowieso erst in der Hauptverhandlung auf der Grundlage der erfolgten Beweisaufnahme erstattet werden“, schreibt Schray in der Antwort des Landesjustizministeriums.
Für das deutsche Strafrecht sei die Klärung der Schuldfrage unumgänglich.
Das sei durch das Grundgesetz geregelt und sei auch Ausdruck der Menschenwürde, erklärt Schray. „Niemand kann für eine Tat bestraft werden, wenn ihn keine ihm strafrechtlich vorwerfbare Schuld trifft“, sagt der Sprecher von Justizminister Guido Wolf. Dies bedeute aber nicht, dass die Person in Freiheit kommt, wenn er nicht verurteilt werden kann. Dann müsse eine Unterbringung in einem meist geschlossenen und entsprechend gesicherten psychiatrischen Krankenhaus in Betracht
gezogen werden.
Dies treffe laut Strafgesetzbuch (StGB) auf Täter zu, die durch erhebliche rechtswidrige Taten ihre Opfer seelisch oder körperlich erhebliche geschädigt oder gefährdet haben, schweren wirtschaftlichen Schaden angerichtet haben und „deshalb für die Allgemeinheit gefährlich sind.“Soweit ist es im Fall des Tuttlinger Tatverdächtigen nicht.
Ein endgültiges Gutachten gibt es dann erst wohl in einer Hauptverhandlung. Die Tatsache, dass ein Gutachter sich einen Verdächtigen mehrfach anschaut, sei „nicht ungewöhnlich“, weil sich die Tatsachen für die Expertise ändern können. Maßgeblich für die Bewertung ist aber die Schuldfähigkeit bei „Begehung der Tat“.