Mehr Kontrolle über die Regierungen
Angesichts der strengen Corona-Maßnahmen fordern Abgeordnete mehr Mitsprache
RAVENSBURG - Restaurants und Kneipen zu, keine Reisen, kein kulturelles Leben, so wenig private Kontakte wie irgend möglich: Die Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus gehen sehr weit. FDP-Politiker sehen die Grundrechtseingriffe bereits als „Ritt auf Messers Schneide“. Auch in Baden-Württemberg und Bayern fühlen sich Abgeordnete übergangen und fordern mehr Mitsprache der Parlamente.
Wie entstehen Corona-Auflagen?
Um die Ausbreitung des Corona-Virus zu bekämpfen, greift die Politik in die Grundrechte der Bürger ein – zum Beispiel durch Kontakteinschränkungen. Grundlage dafür ist das Infektionsschutzgesetz. Dort ist festgeschrieben, dass der Staat Grundrechte wie etwa die Versammlungsfreiheit oder die Unverletzlichkeit der Wohnung einschränken darf, um die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Die Maßnahmen müssen aber verhältnismäßig sein. Das Problem: Nirgendwo steht im Detail, wann genau, warum, in welcher Form und für wie lange welche Rechte eingeschränkt werden dürfen. Und: Der Bundestag hatte im März eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“für zunächst ein Jahr festgestellt. Das verschafft dem Bundesgesundheitsministerium zusätzliche Kompetenzen – es kann etwa Meldepflichten für Fahrgäste im grenzüberschreitenden Bahn- und Busverkehr direkt verordnen. Ein Großteil der Einschränkungen beruht indes auf Verordnungen der Länder, mit denen diese die Absprachen mit dem Bund umsetzen. Im Unterschied zu Gesetzen müssen solchen Verordnungen Parlamente nicht zustimmen. Diese CoronaVerordnungen werden von den Landesregierungen verändert und an die aktuelle Infektionslage angepasst. Am Donnerstag kamen daher in Stuttgart und München die jeweiligen Ministerrunden zusammen. Die Entscheidungen sollen danach in Verordnungen formuliert und „zum Wochenende hin“in den Umlauf der Ministerien gebracht werden.
Was gilt im Süden?
Der baden-württembergische Landtag hat am 22. Juni als erstes Bundesland ein Pandemiegesetz verabschiedet, das dem Parlament mehr Mitspracherecht bei der Entscheiinnerhalb dung über Corona-Maßnahmen einräumt. „Die Corona-Verordnung der Landesregierung muss dem Landtag binnen 24 Stunden zugeleitet werden“, sagt Winfried Mack, Ellwanger Landtagsabgeordneter und stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU. Damit sei gewährleistet, dass die Regierung ihrer Verantwortung nachkommen könne, dabei aber direkt vom Parlament kontrolliert werde. Im Konfliktfall könne der Landtag die Verordnung sogar außer Kraft setzen oder verändern. Außerdem dürfen die Verordnungen nicht mehr unbegrenzt gelten. „Nach zwei Monaten läuft jede Corona-Verordnung aus“, so Mack. Sie müsse dann vom Landtag in seiner nächsten Sitzung verlängert werden, was so zum Beispiel Ende September erfolgt sei. „Wenn sie der Landtag nicht verlängert, tritt die Corona-Verordnung
von vier Wochen außer Kraft“, erklärt Mack. Am Freitag will der Landtag zu einer Sondersitzung zusammenkommen, um über die jüngsten Corona-Maßnahmen zu sprechen. Doch die grün-schwarze Landesregierung will wohl nicht über die Pläne abstimmen lassen – bis dahin sei die Verordnung noch gar nicht fertig, hieß es am Donnerstag. FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke will die Regierungsfraktionen von Grünen und CDU dazu zwingen: „Wir werden einen Dringlichkeitsantrag einbringen, die Maßnahmen im Landtag zur Abstimmung zu bringen und streben eine namentliche Abstimmung an.“Abgestimmt wird erstmals auch in Bayern: Am Freitag trifft sich der Landtag zu einer Sondersitzung, um über die Anti-Corona-Politik von Bund und Ländern abzustimmen.
Wie reagiert die baden-württembergische Landesregierung auf Kritik an diesem Vorgehen?
Trotz dem gesetzlich geregelten Mitspracherecht gibt es in BadenWürttemberg immer wieder Kritik am Beschluss von Corona-Maßnahmen. Zuletzt hatte die FDP der Landesregierung vorgeworfen, die Mitbestimmung des Landtags durch Schlupflöcher zu umgehen. In einem Brief an Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) kritisieren die stellvertretenden FDP-Fraktionsvorsitzenden Nico Weinmann und Jochen Haußmann, dass eine Vielzahl von Einschränkungen statt auf der Grundlage von Verordnung durch Erlass an die Land- und Stadtkreise durchgesetzt würden. An den Erlassen sei der Landtag weder beteiligt noch darüber informiert worden. Dem widerspricht die Landesregierung:
„Von einer fehlenden Einbeziehung des Landtags kann keine Rede sein“, teilt ein Sprecher von Manfred Lucha der „Schwäbischen Zeitung“mit. Seit der Verabschiedung des Pandemiegesetzes im Sommer beschäftigten sich Abgeordnete in öffentlichen Sitzungen der Ausschüsse, aber auch im Plenum mit den Corona-Verordnungen der Landesregierung und stimmten darüber ab. Entscheidungen müssten aufgrund der dynamischen Entwicklung oftmals kurzfristig getroffen werden, um die Gesundheit der Bürger zu schützen und eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. „Dafür ist es unabdingbar für die Exekutive, Gebote und Verbote zu erlassen“, so der Sprecher. Dank des neuen Gesetzes würden die Abgeordneten ausreichend beteiligt, so auch CDU-Politiker Mack: „Wir schaffen es, in einer parlamentarischen Demokratie Corona wirksam zu bekämpfen, ohne diese abzuschaffen.“
Was sagen Experten dazu?
„Ich kann die grundsätzliche Kritik der Abgeordneten verstehen, die gern ein bisschen mehr mitreden würden“, sagt Verfassungsrechtler Wolfgang Armbruster der „Schwäbischen Zeitung“, „aber, was die Gewaltenteilung angeht, sehe ich da kein Problem.“Die Landtage könnten Verordnungen jederzeit debattieren. Kontrolle gebe es außerdem durch die dritte Gewalt: „Die Gerichte überprüfen die Verordnungen und schreiten gegebenenfalls ein.“Die Landesregierungen müssten sich also durchaus für die Maßnahmen verantworten. Dass das „Check and Balance“der Gewaltenteilung funktioniere, zeigten die zahlreichen Urteile, durch die Corona-Maßnahmen in der Vergangenheit wieder gekippt wurden – etwa beim Beherbergungsverbot. Außerdem erfordert die effektive Bekämpfung einer Pandemie laut Armbruster eine gewisse Schnelligkeit bei Entscheidungen: „Wie sollen Hunderte Abgeordnete eine Sache klären, bei der schnell reagiert werden muss?“Für den Rechtswissenschaftler Volker Boehme-Nessler sind die neuen Corona-Maßnahmen dagegen nicht haltbar. Es sei „verfassungsrechtlich und demokratisch ein Unding“, dass der Bundestag an den aktuellen Beschlüssen überhaupt nicht beteiligt worden sei, sagte Boehme-Nessler am Donnerstag im WDR-Radio.