Rasende Rohdiamanten
Der VfB Stuttgart reist als Favorit zum FC Schalke – auch dank Talente-Guru Sven Mislintat
STUTTGART - Wenn der VfB Stuttgart heute beim FC Schalke antritt (20.30 Uhr/Sky), ist er erstmals seit Jahren in einem Auswärtsspiel der Bundesliga der Favorit – was natürlich zuvorderst an den verheerenden Auftritten der Knappen in diesem Kalenderjahr liegt. Schalke ist nach der 0:3-Pleite im Derby in Dortmund seit 21 Spielen ohne Sieg bei einem bemerkenswert miserablen Torverhältnis von 9:56. Die Zahlen für diese Runde – 1 (Punkte) und 2:19 (Tore) – klingen nicht besser. Auch wenn die Schalker das schwerstmögliche Auftaktprogramm hatten mit Partien in München, Leipzig und beim BVB: Keiner ist so schlecht bei Torchancen, Flanken, Laufleistung und Sprints wie sie.
VfB-Trainer Pellegrino Matarazzo beeilte sich am Mittwoch zwar, vor dem Gegner zu warnen, er hob gleich fünf Spieler heraus, die Stuttgart gefährlich werden könnten und lobte Manuel Baum, dessen Taktik klar erkennbar und trotzdem variabel sei. Und doch konnte auch der 42-Jährige nicht leugnen, dass da die Mannschaft des Schreckens auf die der Stunde trifft, seinen VfB nämlich, der nach dem besten Saisonstart seit 13 Jahren derzeit den fünften Rang einnimmt.
„Die aufregendste Mannschaft der Bundesliga“, nannte die FAZ den Aufsteiger, tatsächlich ist es dem VfB in kürzester Zeit gelungen, wieder Hoffnung zu wecken auf die Rückkehr einer Zeit, in der der Club zum Inventar der oberen Tabellenhälfte gehörte. Vater des Aufschwungs ist Kaderplaner Sven Mislintat und dessen Spürnase für erschwingliche, hochkarätige Talente. Sage und zähle 16 Stuttgarter, alle doppelt und dreifach gescoutet, sind 22 Jahre und jünger, mittels einer vor 20 Jahren selbst entworfenen Supersoftware, die jede Aktion von Spielern qualitativ bewertet und vergleichbar macht, hat Mislintat die vierte Generation der jungen Wilden installiert, gemeinsames Kennzeichen: das Hochgeschwindigkeitsspiel. Die spektakulärsten Vertreter sind die beiden Winger, die Flügel-Trickwirbler Silas Wamangituka und Tanguy Coulibaly. Beide kamen aus Paris, beide leugnen den Querpass und lieben das Foppen: Finten, Beinschüsse, Übersteiger, Sololäufe,
Tugenden, die rar geworden sind im modernen Fußball. Wamangituka, dessen Stern schon 2018 aufging, kam als sieben Million Euro teures Versprechen, Coulibaly als 450 000 Euro günstiges Schnäppchen von St. Germain. Neben Zwei-Meter-Stürmer Sasa Kalajdzic, am Boden erstaunlich elegant und passsicher, und dem hünenhaften Innenverteidiger Konstantinos Mavropannos sind sie Mislintats Perlen, der beste Einkauf aber war sicher Wataru Endo, der im Vorjahr vom belgischen Zweitligisten St. Truiden kam. Der 27-jährige Japaner ist ein Alleskönner: Ein Dauerläufer, Löcherstopfer und Grätscher, ein Stratege, der tödliche und beruhigende Pässe beherrscht und einer der wenigen Asiaten ist, die durchaus als Kopfballungeheuer durchgehen könnten, trotz seiner 1,78 Meter. „Wie Endo sich innerhalb der Truppe gibt und bewegt, wie professionell er sein Leben führt – das ist sensationell“, sagt Mislitat.
Ebenso sensationell wie die Auswahl, die Matarazzo inzwischen hat: Nicolas Gonzalez, der beim 1:1 gegen Köln laut Trainer noch konditionelle Defizite offenbarte und defensiv Lücken ließ, sei nur eine Option für Wamangituka, der wohl wie Roberto Massimo wegen Knieproblemen ausfällt (zudem fehlt Waldemar Anton). Matarazzo will nicht über sein Mini-Lazarett klagen („Dann wäre ich in der Opferrolle“), er schwärmt lieber vom möglichen Vertreter Mateo Klimowicz – und gerne auch von Naouirou Ahamada. Der 18-jährige Leihspieler von Juventus, ebenfalls aus Frankreichs U17, scheint der nächste Rohdiamant zu sein. „Er macht einen sehr guten Eindruck, ist spielstark und zweikampfstark, hat eine gute Beschleunigung", sagte Matarazzo, auch „Naoui – so nennen wir ihn, das ist einfacher“, werde wohl bald eine Chance bekommen.
Der nächste Treffer für Mislintat also, der den VfB mit kleinem Geld „und trotz 50 Millionen Euro Nettotransfererlösen, die wir nach dem Abstieg erzielen mussten“, step by step nach oben führt – wenn er auch tief stapelt. Bis 2023 werde es für den VfB schon aus finanziellen Gründen allein gegen den Abstieg gehen, sagt Misilintat, dessen Vertrag ausläuft und der sich in Pandemiezeiten vor Angeboten sicher nicht retten kann. Aus wenig Ressourcen das Maximale zu machen und die Marktwerte von Talenten zu vermehrfachen, das finden viele Clubs sexy. Mislintat sagte dazu, der VfB befinde sich in der Pole Position, er genießt die Freiheiten und das Vertrauen, die er beim VfB hat und lobte dezidiert das Verhältnis zu Matarazzo, Vorstand Thomas Hitzlsperger und Sportorganisationsdirektor Markus Rüdt.
Der Trainer wandte seinem Zulieferer Kränze: „Man sieht Svens Handschrift, man sieht die Talente, die er verpflichten kann. Sein Netzwerk ist riesengroß, seine Qualität erkennbar. Ich glaube, dass ein produktives, konstruktives, gutes Gefühl herrscht im Team. Das ist Sven wichtig, und ich gehe davon aus, dass er bleibt.“