Skiausflug in den Tod
Vor 20 Jahren brennt ein Zug der Gletscherbahn Kaprun – 155 Menschen sterben, die wenigen Überlebenden leiden bis heute
KAPRUN (dpa) - Ein Traumtag zum Skifahren. Blauer Himmel über dem Kitzsteinhorn. Dann die Hölle. Die Bahn kommt im drei Kilometer langen Tunnel zum Gletscherplateau zum Stehen. Im unteren Teil der Standseilbahn bricht ein Brand aus. Die Türen sind zu. Verzweifelt schlagen Skifahrer die Plexiglasscheiben ein. Sie zwängen sich ins Freie. Fast alle rennen instinktiv weg vom Feuer am Ende des Zuges. Sie laufen nach oben. Ein tödlicher Fehler. Die Wolke aus Rauch- und Giftgas holt sie sofort ein. Vor 20 Jahren, am 11. November 2000, sterben 155 Menschen, davon 37 aus Deutschland. Nur zwölf überleben.
Die Katastrophe von Kaprun ist das schlimmste Unglück in Österreichs Nachkriegsgeschichte. Bis heute herrscht Leid – und die Frage, ob der Freispruch von 2004 für 16 Angeklagte wirklich das letzte juristische Wort ist.
„Die Gletscherbahn war eine tickende Zeitbombe“, ist Opfer-Anwalt Gerhard Podovsovnik immer noch überzeugt. Es seien sehr viele nicht erlaubte Gegenstände an Bord gewesen. Der von der baden-württembergischen Firma Fakir hergestellte Heizlüfter „Hobby TLB“, der laut Gericht das Unglück verursacht hat, sei von den Betreibern in eigener Regie umkonstruiert worden und habe so alle Zertifizierungen verloren. „Der Heizlüfter war vor dem eigenmächtigen Umbau technisch einwandfrei in Ordnung.“
Der Anwalt will den Freispruch von 16 Angeklagten 2004 nicht auf sich beruhen lassen, er sieht eine gewisse Chance, das Verfahren zivilrechtlich noch einmal ins Rollen zu bringen. In Europa gebe es zwar keine Aussicht, aber über den Umweg USA – acht Opfer stammten von dort – lasse sich eventuell etwas machen. „Wenn man es darauf anlegt, ist der Vergleich auf Sand gebaut“, sagt der Jurist mit Blick auf die insgesamt 16 Millionen Euro, die damals an die Angehörigen geflossen sind. Diese Vereinbarung sei nur unter dem Druck zustande gekommen, dass alle hätten unterschreiben müssen – sonst, so sieht es der Anwalt, hätte kein Hinterbliebener etwas bekommen.
Sollte sich ein Sponsor finden, der den wohl millionenteuren Prozess in den USA bezahle, „dann beauftrage ich sofort einen US-Anwalt“, sagt Podovsovnik, der am Ende des Verfahrens die Angehörigen von rund 100 Opfern vertreten hatte.
Auf schlimmste Art waren damals auch die Mitglieder des Ski-Clubs
Vilseck aus der Oberpfalz betroffen, die auf dem Kitzsteinhorn das Pistenvergnügen genießen wollten. Mit 49 Teilnehmern waren sie nach Kaprun gekommen, 20 von ihnen starben. Der 47-jährige Markus Hiltel leitete damals die Reisegruppe.
Er ist immer noch sichtlich bewegt, wenn er über das Unglück spricht. Er selbst saß damals nicht in der Bahn. Aber sein Vater und seine Freundin waren an Bord. Die Freundin starb, der Vater ist einer der wenigen Überlebenden. Ein Interview will er aber nicht geben. Zu sehr wühlten ihn die Erinnerungen auf, sagt sein Sohn.
Es sei ein „Traumtag“gewesen, erzählt der 47-Jährige. Sonne, blauer Himmel, beste Stimmung. An der Talstation teilt der Reiseleiter die Skipässe aus. Nach und nach steigen die Kameraden in die Seilbahn. Irgendwann ist der Zug voll. Hiltel und einige weitere Vilsecker müssen warten. Eine 17-Jährige aus der Gruppe wird noch schnell von Skifahrern über das Drehkreuz gehoben, damit sie es in die Bahn schafft. „Das ist das Allertraurigste überhaupt. Sie wäre eigentlich gar nicht in der Bahn gewesen“, sagt Hiltel. Die Jugendliche stirbt später in den Flammen.
Hiltels Vater kann sich retten, weil es keine Nothämmer im Zug gibt, schlägt der damals 51-Jährige mit seinen Skiern eine Scheibe ein. Gemeinsam mit elf weiteren Passagieren flüchtet er aus dem Tunnel, nach unten in Richtung Tunneleingang, wo der Rauch nicht hinzieht. Fast 600 Meter laufen sie über die
Notstiege – in klobigen Skistiefeln und Dunkelheit. „Sie hielten sich an einem Stahlseil fest, stürzten immer wieder“, berichtet der Sohn.
Hiltel erzählt von „völliger Überforderung“und „Eskalation der Gefühle“bei den Hinterbliebenen. Einige Gruppenmitglieder hätten die Koffer der Toten gepackt. „Das war alles zu viel.“Bei der Rückfahrt im Reisebus wurde die Katastrophe durch die vielen leeren Sitze deutlich. „Wir haben den hinteren Teil mit einer Decke abgehängt, damit man das nicht so sieht“, sagt Hiltel.
Die Journalisten Hubertus Godeysen und Hannes Uhl haben in ihrem Buch „155 – Der Kriminalfall Kaprun“in aufwendiger Recherche die Katastrophe und den Prozess durchleuchtet. „Der schöne Schein der modernen Bahn trog“, schreibt Godeysen nun zum 20. Jahrestag. In der 1993 umgebauten Gletscherbahn hätten die Fahrer wegen der eiskalten Zugluft erbärmlich gefroren. Die Heizlüfter seien völlig unfachmännisch eingebaut worden – direkt neben Ölleitungen. „Immer öfter drang Öl in die Lüfter und immer häufiger saugten die Ventilatoren kleine ölgetränkte Dämmfaserteilchen ein“, so Godeysen. Öl und der Glühdraht eines Heizlüfters seien eine tödliche Kombination gewesen.
Doch die Kapruner Gletscherbahn AG geht nach Prozessende 2004 gegen den Hersteller des Heizlüfters aus Baden-Württemberg vor. Der Schritt erweist sich als juristisches Eigentor. Die von den österreichischen Behörden zuständigkeitshalber ins Boot geholte Staatsanwaltschaft Heilbronn stellt 2008 in einem 54-seitigen Ermittlungsbericht eindeutig fest: „Dem beschuldigten Unternehmen Fakir kann weder bezüglich der Brandentstehung noch wegen des Verlaufs der Brandkatastrophe und dem damit verbundenen Tod von 155 Personen irgendein Vorwurf gemacht werden“, heißt es in der Ermittlungsakte.
Der Heizlüfter habe alle Prüfzeichen für den von Fakir bestimmten Gebrauch gehabt, nämlich für die Verwendung als Standgerät in Wohnräumen oder Badezimmern. „Tatsächlich wurde der Heizlüfter als Einbaugerät in einem Fahrzeug verwendet“– und das gegen den ausdrücklichen Warnhinweis des Herstellers. Im Prozess hatte sich der Richter der Sichtweise der Verteidiger angeschlossen, dass die Standseilbahn kein herkömmliches Fahrzeug gewesen sei. Fakir selbst geriet infolge der Anschuldigungen an den Rand des Ruins.
Für die Gletscherbahn Kaprun AG ist der Fall abgeschlossen. Rund 25 Jahre lang habe die 1974 in Betrieb genommene Standseilbahn, die die Skisportler in achteinhalb Minuten auf das Areal rund um das 3200 Meter hohe Kitzsteinhorn brachte, einwandfrei funktioniert, sagt Sprecher Harald Schiffl. „Das ist eine tolle Geschichte“und eine sehr sichere Art des Transports, habe man damals gedacht.
Die Gletscherbahn wurde nicht wieder in Betrieb genommen, teilweise zurückgebaut und durch mehrere neue Bahnen ersetzt. 2004 wurde eine Gedenkstätte an der Talstation errichtet. Dort treffen sich jedes Jahr – in Nicht-Corona-Zeiten – bis zu 100 Angehörige, um in einer schlichten Feier an die Opfer zu erinnern, wie Kapruns Bürgermeister Manfred Gaßner sagt. Auch in Vilseck wollen am 11. November die Menschen der Toten gedenken.
Gefragt nach dem stärksten Eindruck der damaligen Gerichtsverhandlung muss Anwalt Podovsovnik nicht lange nachdenken: „Es war das Scheitern des österreichischen Rechtssystems und die Übermacht der österreichischen Skiwirtschaft.“