Der Tabubruch
Karl Ove Knausgårds erster Roman „Aus der Welt“erscheint erstmals auf Deutsch
Dieses Buch schlug ein wie eine Bombe. Als der damals 30-jährige Karl Ove Knausgård 1998 in Norwegen „Ute Av Verden“veröffentlichte, wurde er gleich mit Knut Hamsun, Vladimir Nabokov und James Joyce verglichen. Als erster Debütant überhaupt erhielt er den den wichtigsten Literaturpreis in Norwegen. Im Ausland kümmerte sich noch keiner um den neuen Stern am Literaturhimmel. Das änderte sich nach dem Erscheinen von Knausgårds 4000 Seiten umfassenden Zyklus‘ „Min Kamp“, der aus verständlichen Gründen hierzulande nicht unter dem Titel „Mein Kampf“beworben wurde. Die sechs Bände (im Original zwischen 2009 und 2011 erschienen) wurden zu Weltbestsellern. Auf einmal interessierten sich alle für das Debüt des norwegischen Überfliegers.
2015 kam „Ute Av Verden“in einer schwedischen Übersetzung heraus und ließ erneut Aufhorchen. Diesmal nicht seiner sprachlichen Qualität wegen. Von „literarischer Pädophilie“schrieb die feministische Literaturwissenschaftlerin Ebba WittBrattström in der größten schwedischen Tageszeitung „Dagens Nyheter“. In der Folge entwickelte sich ein publizistischer Konflikt über Kunst und Moral, an dessen Ende der damals in Schweden lebende Knausgård das Land verließ und in die Anonymität von London floh. „Als Pädophiler bezeichnet zu werden“, schrieb er seinerzeit in einem
Artikel, in dem er sich verteidigte, sei keine angenehme Erfahrung. „Ich habe selbst vier Kinder, die ältesten haben angefangen, Zeitung zu lesen, und ich warte nur auf die Frage: ,Papa, was ist Pädophilie? Warum sagt sie, dass du ein Pädophiler bist?’“Was war geschehen?
Jetzt erscheint „Aus der Welt“(von Paul Berf hervorragend übersetzt) auf Deutsch und jeder kann sich selbst ein Urteil bilden. Allerdings ist Vorsicht angebracht: Neigt doch der Leser, der die bisher in Deutschland erschienenen Bücher Knausgårds kennt, dazu, alles durch die autobiografische Brille zu betrachten. Kaum ein anderer Schriftsteller hat so konsequent die Grenzen zwischen Literatur und Leben verschwimmen lassen und selbst aus den kleinsten Banalitäten der eigenen Vita noch Kunst gemacht. Dabei entstanden großartige Bücher, die so erfolgreich waren, weil sie die elegante Egozentrik Marcel Prousts mit dem hoffnungslosen Narzissmus junger YouTuber vereinten. Mitunter aber führte dieser poetologische Ansatz auch in eine Sackgasse wie 2015 und 2016 bei weiten Passagen der „Jahreszeiten“-Tetralogie. Oft hatte es darin den Anschein, dass Knausgård sich auserzählt habe.
Davon kann im Debüt keine Rede sein. Im Zentrum steht der 26-jährige Henrik Vankel, der als Aushilfslehrer für ein Jahr in ein kleines Kaff in Nordnorwegen geht. Jeder kennt dort jeden, und alle wissen alles übereinander. Ungünstig für einen wütenden einsamen Wolf wie diesen Henrik, der besoffen die Kolleginnen anbaggert und mit seiner dreizehnjährigen Schülerin ins Bett steigt. Hoffnungslos verliebt hat er sich in diese Mirijam, die, wie er glaubt, seine Gefühle erwidert. Wie Knausgård seine Figuren einführt, ist große Literatur und in der Tat mit Marcel Proust zu vergleichen. Während am Anfang noch möglich scheint, dass dieser Henrik sich nur nach der verlorenen Unschuld seiner Kindheit sehnt, wird zunehmend klar, dass er wirklich pädophil ist, es ihm nur um ihn selbst geht. Wie authentisch und obsessiv Knausgård die Seelennöte dieses zwischen Begierde und Scham hin- und hergetriebenen Protagonisten beschreibt, ist fast schon erschreckend. Kein Wunder kam so manche(r) seiner Leser-(innen) auf die Idee, er schreibe in dem Roman über selbst Erlebtes.
Es kommt, wie es kommen muss: Zwei Klassenkameraden von Mirijam sehen das Mädchen in Henriks Bett als sie durchs Fenster schauen. Der junge Aushilfslehrer muss fliehen, kehrt nach Kristiansand zurück, wo er aufwuchs. Er versteckt sich in einer Bruchbude und erinnert wie im Wahn Bilder aus seiner Familiengeschichte. Der Großvater, der Frau und Kinder verließ, um als Seemann zu sterben. Der trinkende Vater, bei dem Henrik als Junge allein zurückbleibt, nachdem die Mutter die Familie verlassen hat. Völlig verwahrlost schiebt der Vater den Jungen ab und lässt ihn in einer Gartenlaube wohnen, weil er selbst allein sein will. Szenen wie Knausgård-Leser sie aus „Min Kamp“kennen, die augenscheinlich autobiografisch motiviert sind. Aber in seinem ersten Buch machte der Autor sie noch nicht eins zu eins zu Literatur, sondern fiktionalisierte sie.
Nach und nach entsteht eine verstörende Soziogenese dieses völlig verunsicherten Henrik, der nicht erwachsen, nicht wie seine männlichen Vorfahren werden will und deswegen zum Pädophilen mutiert. Einer, der sich nach Unschuld sehnt und sich selbst dabei doch so schuldig macht, ohne es zu erkennen. Mit seinem ersten Buch schon rührt Karl Ove Knausgård eines der letzten Tabuthemen an. Er will schockieren, so wie er später mit dem Titel „Mein Kampf“provozieren will.
In einer Zeit, in der Literatur immer häufiger nach moralischen Kriterien und Political Correctness beurteilt wird, trifft er damit einen wunden Punkt. Wahrscheinlich hat es auch deswegen so lange gedauert, bis sein deutscher Verlag sich an die Übersetzung des Debüts traute. Ein gewaltiges Buch. Der Gestus allein, mit dem sich hier ein Debütant auf eine Stufe mit den Großen der Weltliteratur stellt und stilistisch dabei nicht abfällt, verdient Bewunderung.