„Unternehmen erwarten Vertraulichkeit“
Der frühere Trossinger Bürgermeister Clemens Maier zur Diskussion über das geplante Amazon-Verteilzentrum
TROSSINGEN - Über die geplante Amazon-Ansiedlung in Trossingen ist in den vergangenen Wochen eine rege Diskussion entstanden. Bürger kritisierten unter anderem die Entscheidungsfindung ohne Einbindung der Öffentlichkeit. Redakteur Michael Hochheuser befragte den früheren Trossinger Bürgermeister Clemens Maier, der maßgeblich in den Prozess involviert war.
Viele Trossinger kritisieren, dass die Entscheidung zur Amazon-Ansiedlung ohne ihre Einbindung „hinter verschlossenen Türen“gefallen sei. Warum haben Sie nichtöffentlich verhandelt, ohne, ab einem gewissen Zeitpunkt, die Öffentlichkeit mit einzubinden? Zunächst eine kurze Vorbemerkung: Da ich hier in Trossingen nicht mehr im Amt bin, spreche ich jetzt nicht für den Gemeinderat oder die Stadt, sondern möchte durch meine persönliche Einschätzung helfen, die Diskussion etwas zu versachlichen. Das möchte ich vorab klarstellen. Zum Thema, dass Grundstücksangelegenheiten nichtöffentlich zu behandeln sind, hat Hauptamtsleiter Ralf Sulzmann in einem Interview am 22. Dezember an dieser Stelle bereits alles ausgeführt. Als nächstes wird nun ein vorhabenbezogenener Bebauungsplan für das fragliche Grundstück erarbeitet, der im Gemeinderat mehrfach öffentlich diskutiert und am Ende beschlossen werden muss. Das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass Amazon überhaupt bauen kann. Dieses Verfahren ist komplett öffentlich und transparent. Alle Bürgerinnen und Bürger sind dabei eingeladen, sich hieran zu beteiligen. Wer sich für Kommunalpolitik interessiert, könnte das wissen. Grundsätzlich ist aber bezüglich eines Grundstücksverkaufs folgendes festzuhalten: Jedem, der schon mit solchen Dingen zu tun hatte, dürfte klar sein, dass ein Unternehmen, das sich hier ansiedeln will, Vertraulichkeit im Vorfeld einer Entscheidung erwartet. Wenn eine Gemeinde diese Grundvoraussetzung im Umgang mit Gewerbetreibenden nicht erfüllt, verliert sie schlagartig das Vertrauen der Wirtschaft und wird keine Unternehmen mehr ansiedeln können.
Von Gemeinderat und Verwaltung wird zurecht erwartet, dass sie Wirtschaftsförderung betreiben und Arbeitsplätze schaffen. Das geht aber nur, wenn die Stadt in der Wirtschaft Vertrauen genießt. Dieser Aufgabe kommt die Stadt hier nach, wenn der Gemeinderat dem Gedanken, ein Unternehmen wie Amazon hier anzusiedeln, nähertritt.
Würden Sie nach den Reaktionen der letzten Wochen das Verfahren im Rückblick anders gestalten? Aus genannten Gründen können Grundstücksgespräche gar nicht anders laufen. Und alles weitere, nämlich die Frage, ob der Gemeinderat das Vorhaben auch baurechtlich ermöglicht, geschieht nun öffentlich. Das ist das übliche und auch zielführende Vorgehen.
Verfolgen Sie die derzeitige Diskussion in der Stadt und wie ist Ihre Einschätzung dazu?
Die Älteren unter uns erinnern sich sicher noch an die Kataloge von Quelle, Neckermann und Otto, aus denen bestellt wurde - so ganz anders war deren Geschäftsmodell damals nicht, und niemanden hat es gestört. In der Diskussion sollte grundsätzliche Kritik am Geschäftsmodell von Amazon nicht mit der konkreten Ansiedlung vor Ort vermischt werden. Politik beginnt bekanntlich mit dem Betrachten der Wirklichkeit. Und in der Wirklichkeit ist Amazon mit seinem Geschäftsmodell eines der erfolgreichsten Unternehmen der Welt. Das muss man nicht gut finden, aber daran wird sich auch durch eine Entscheidung für oder gegen eine Ansiedlung vor Ort nichts ändern.
Warum halten Sie die Amazon-Ansiedlung für eine gute Idee für die Stadt, wo sehen Sie Vorteile und eventuell Nachteile?
Dass Amazon Interesse an einer Ansiedlung in Trossingen hat, liegt zum einen an unserer Lage an der Autobahn, die wir ja gerne als Verkaufsargument für unsere Gewerbeflächen verwenden. Zum anderen liegt es aber auch daran, dass die Menschen in der Region bereits heute sehr rege, und durch Corona leider noch mehr, bei Amazon bestellen. Amazon ist mit seinen Paketen bereits da, die Fahrzeuge, die diese Pakete ausliefern und uns Weihnachtsgeschenke bringen, sind auch schon heute auf unseren Straßen, und die Kunden sind auch schon da. Das gehört zur Wahrheit eben dazu.
Ohnehin reden wir hier ja nicht beispielsweise über ein Outletcenter oder ähnliches von Amazon, sondern nur über ein Verteilzentrum, in dem niemand einkaufen wird. Eingekauft wird weiterhin online, und dem Besteller ist es egal, woher ihm sein Paket geliefert wird. Aus diesem Grund beeinträchtigt eine Ansiedlung von Amazon auch den örtlichen Einzelhandel nicht mehr, als der Onlinehandel es schon heute tut. Für die Stadt würde die Ansiedlung von Amazon, sofern das Bebauungsplanverfahren positiv endet, neben dem Verkauf eines gewerblich sonst nur schwer nutzbaren und verwertbaren Grundstücks vor allem Arbeitsplätze bringen. Teils qualifizierte Arbeitsplätze, in der Mehrzahl Arbeitsplätze für angelernte Tätigkeiten oder als Fahrer. Sollte nach Corona im ein oder anderen hiesigen Betrieb die Kurzarbeit enden und in Arbeitslosigkeit umschlagen, so wird es vermutlich auch Bürger unserer Stadt geben, die froh über eine solche Chance vor Ort sind. Neben den nach vorläufiger Schätzung etwa 150 + x Jobs, die direkt bei Amazon entstehen, wird es sicherlich nochmal so viele in der dazugehörigen Logistik geben. Und diese Jobs bei Amazon sind relativ sicher, denn der Onlinehandel gehört aktuell wohl zu den am stärksten boomenden Branchen, während unsere produzierenden Unternehmen, insbesondere wenn sie am Automobilsektor hängen, Probleme haben. Und wenn Trossinger Bürgerinnen und Bürger hier vor Ort Arbeit haben, dann profitiert die Stadt auch über die Einkommensteuer daran mit. Sicher werden nicht nur Trossinger
dort arbeiten, das ist auch bei allen anderen Trossinger Unternehmen nicht so, aber es ist für manche Menschen hier jedenfalls eine Chance.
Wie sehen Sie die Verkehrsproblematik?
Was den Verkehr betrifft, wird nach den bisherigen Planungen die Anlieferung mit LKW logischerweise von der Autobahn her erfolgen. Die Anfahrt erfolgt also, ohne das eigentliche Stadtgebiet überhaupt zu berühren. Der weitere Umschlag und Weitertransport mit kleineren Fahrzeugen erfolgt weitestgehend ebenfalls wieder über die Autobahn. Im Norden etwa bis Sulz, im Süden bis Singen und im Westen Richtung Schwarzwald. Nach Osten, wo es zu Durchfahrten durch Trossingen kommen kann, ist das Einzugsgebiet dadurch begrenzt, dass die Belieferung der Kunden im Bereich Tuttlingen wohl von Amazon in Messkirch aus erfolgen soll, also gar nicht von Trossingen aus angefahren werden. Es sind hier vor Ort also vor allem die örtlichen Kunden, die direkt beliefert werden - so wie ja heute auch schon.
Mit einem spürbaren Mehr an Verkehr ist also wohl nicht zu rechnen. Aber diese Fragen werden im Rahmen des Bebauungsplanverfahren noch im Detail untersucht und auch öffentlich thematisiert. Dafür ist dieses Verfahren ja auch da. Genauso wird dabei auch die Leistungsfähigkeit der Kreuzung der L 433 In Steppach/Christian-MessnerStraße untersucht und auf gegebenenfalls notwendige bauliche Veränderungen geprüft. Dies wird alles in die abschließende Bewertung und falls nötig auch in straßenbauliche oder organisationsinterne Auflagen an den Bauträger einfließen.
Wie bewerten Sie das Unternehmen als Arbeitgeber – immer wieder kommt es zu Streiks von Amazon-Mitarbeitern wegen der dortigen Arbeitsbedingungen….
Die Streiks zeigen, dass unser Tarifvertragssystem funktioniert und in Deutschland auch bei Amazon die Arbeitnehmerseite ihre Rechte effektiv geltend machen kann. Auch in anderen Branchen wird gestreikt. Das sind deshalb Themen, die von einer Ansiedlung in Trossingen völlig unabhängig sind. Denn wenn sich Amazon irgendwo anders in der Region ansiedelt, stellen sich dort die gleichen Fragen. Auch für Amazon gilt das deutsche Arbeitsrecht, und es gibt vermutlich nicht viele Länder auf dieser Erde, in denen die Rechte der Arbeitnehmer so hochgehalten werden wie bei uns.
Und nochmals: Es gibt auch bei uns Menschen, die froh über einen Job bei Amazon wären, denn das ist immer noch deutlich besser als gar keine Arbeit. Manche, die sich gerade aus einer vielleicht privilegierten Situation heraus empören, sollten das mitbedenken. Es muss gerade mit Blick darauf, dass immer mehr rein produzierende Tätigkeiten ins billigere Ausland abwandern, und dass durch Industrie 4.0 und andere Veränderungen der Arbeitswelt so mancher niedrigqualifizierte Job wegfallen wird, auch in Zukunft noch Arbeit für Menschen ohne Abitur und Studium geben. Das wird hier der Fall sein.