Forscher aus Leidenschaft
Die Biontech-Gründer Özlem Türeci und Ugur Sahin erhalten das Bundesverdienstkreuz
BERLIN/RAVENSBURG - Der 9. November hat für Ugur Sahin und Özlem Türeci die entscheidende Wegmarke markiert. An diesem Montag erhielten die Gründer des Mainzer Pharmaspezialisten Biontech die Daten der Phase-3-Studie. Daten, die zeigen sollten, wie wirksam der von den Forschern entwickelte Impfstoff gegen das Coronavirus sein würde. „Der 9. November war der Tag der Wahrheit, von da an war klar, wie effektiv der Impfstoff tatsächlich wirkt und wie gut er damit gegen Covid-19 funktioniert“, erzählt Biontec-Aufsichtsratschef Helmut Jeggle im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. „Aufgrund der signifikanten Wirksamkeit war für die beiden an dem Tag klar, dass Biontech mit dem Impfstoff eine wirksame Waffe gegen die Pandemie beitragen kann.“
Für diese Leistung, die Sahin und Türeci vollbracht haben und die in diesen Stunden im November zuerst dem Ehepaar selbst klar geworden ist, hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die beiden am Freitag mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Steinmeier würdigte sie als herausragende Wissenschaftler und mutige Unternehmer. „Ihre bahnbrechende Entdeckung rettet Menschenleben, sie rettet Existenzen, sie sichert unser gesellschaftliches, wirtschaftliches und kulturelles Überleben“, sagte der Bundespräsident. Im Beisein von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) verlieh Steinmeier Sahin und Türeci das große Verdienstkreuz mit Stern, eine der höchsten Auszeichnungen der Bundesrepublik.
Türeci und Sahin riefen zur Zuversicht und zu Pragmatismus bei der Überwindung der Pandemie auf. „Das Licht im Dunkeln wird heller“, sagte Türeci. Durch eine internationale Kraftanstrengung sei schon viel erreicht worden. Die Aufgabe sei aber erst gelöst, wenn jeder einen Impfstoff erhalten könne.
Worte, die zur Charakteristik passen, die Biontech-Aufsichtsratschef Jeggle von Türeci und Sahin zeichnet. „Für beide ist eine bessere Medikation für Patienten ein Lebensziel“, sagt Jeggle. „Türeci und Sahin sind unglaublich bodenständig und geleitet vom wissenschaftlichen Streben, das Immunsystem, die Krankheit und die eigenen Technologien besser zu verstehen.“Den Stolz auf die beiden, den Stolz darauf, dass Türeci und Sahin in Rekordzeit ein sehr gutes Medikament gegen die Pandemie entwickelt haben, kann der gebürtige Oberschwabe nicht verhehlen. „Sie haben etwas für die Menschheit geleistet. Mit ihrem Beitrag werden täglich Menschenleben gerettet, das zeigt der Rückgang der Mortalitätsraten“, sagt Helmut Jeggle.
Als die Pandemie vor gut einem Jahr in China ausbrach und die ersten Berichte über das Virus von Fernost nach Europa kamen, war dieser Erfolg nicht absehbar. Noch in der Woche der ersten Berichte beginnen Sahin und Türeci mit ihrer Entwicklungsarbeit und setzen sich an die Spitze der Impfstoffforschung. Sie wissen, dass sich mit ihrer Technik, die die Eigenschaften der Boten-Ribonukleinsäure (mRNA) nutzt, in kurzer Zeit Mittel gegen fast jeden Erreger bauen lassen. Sie wissen auch, dass Impfungen gegen Corona grundsätzlich möglich sind. Sie treffen eine gewagte Entscheidung – und stellen alle Ressourcen von Biontech hinter das Projekt „Lichtgeschwindigkeit“. Es ist ein Wagnis, denn die mRNA-Technologie ist für Impfstoffe noch so gut wie nicht erprobt.
Die Zuversicht Sahins und Türecis basiert auf den Erfahrungen, die sie mit ihrem Unternehmen Biontech gemacht haben und mit dem sie ihre bis dahin gewonnen Erkenntnisse über Boten-Ribonukleinsäure zur Heilung und Vorbeugung verschiedener Krankheiten nutzen wollten. Die beiden haben das Verfahren zwar nicht erfunden, aber sie gehören zu einer Handvoll von Gründern weltweit, die den Mut hatten, ein Unternehmen um diese bisher unerprobte Technik herum aufzubauen. Bei Biontech in Mainz, wo Sahin bis heute auch Uni-Professor ist, befinden sich daher einige der modernsten Forschungsstätten für mRNATherapien. Der 2008 gegründete Biotech-Spezialist ist dabei das zweite Unternehmen von Türeci und Sahin. Bereits 2002 gründeten sie Ganymed Pharmaceuticals, das sie 2016 an Japaner verkauft haben.
Sahin, 55, stammt aus dem südtürkischen Iskenderun. Türeci, 54, ist in Niedersachsen geboren, wuchs aber anfangs in Istanbul auf. Beide sind in Deutschland zu Schule und Uni gegangen und haben in der Wissenschaft Karriere gemacht. Weggefährten beschreiben die beiden ähnlich wie Jeggle als uneitel. Dabei ist Türeci deutlich zurückhaltender. Sie schiebt oft ihren Mann vor, wenn es um Auftritte und das Rampenlicht geht – daher ist er in den Medien stärker präsent, zumal er bei Biontech die Rolle des Firmenchefs übernimmt. Türeci ist offiziell Forschungschefin. Doch es gibt die beiden nur im Paket, und sie treffen Entscheidungen gemeinsam. Sie teilen sich oft ein Videokonferenz-Fenster, wenn sie vom Homeoffice aus ihr Unternehmen lenken.
Sahin ist trotz seiner ruhigen Art sehr gut darin, Sachverhalte in der Öffentlichkeit zu erklären. Seine sanfte Stimme hilft dabei, Vertrauen in seine Techniken und Produkte zu schaffen. Er transportiert durch diese Aussagen und seine Sprechweise die Botschaft: Dieser Mann wäre untröstlich, wenn eines seiner Produkte jemandem schaden würde. Umso glaubwürdiger kann der ausgebildete Arzt versichern, wie überzeugt er von deren Sicherheit ist.
Der Aufstieg zum Professor und Unternehmer war Sahin nicht in die Wiege gelegt. Als die deutsche Industrie
einst Gastarbeiter angeworben hat, war Sahins Vater einer davon. Er hat bei Ford in Köln am Band gearbeitet. Türeci kommt dagegen aus einem Arzthaushalt in Niedersachsen; sie studierte Medizin, um in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Beide gingen Ende der 1990er-Jahre an die Uniklinik des Saarlandes in Homburg, wo sie sich kennenlernten und ein Paar wurden. Den Wechsel an die Universität Mainz machten die beiden bereits gemeinsam. Dort fingen sie an, die Möglichkeiten gentechnischer Krebstherapie zu erforschen. Am Tag ihrer Hochzeit schauen sie nachmittags bei ihren Experimenten im Labor vorbei: Sie sind echte Forscher aus Leidenschaft.
Für eine Unternehmensgründung dagegen reicht gute Wissenschaft allein nicht – dafür ist reichlich Kapital nötig. Doch die Begeisterung für die Möglichkeiten moderner Biomedizin hilft auch hier. Sie überzeugten zur Jahrhundertwende die PharmaInvestoren und Hexal-Gründer Thomas und Andreas Strüngmann, bei ihnen einzusteigen. Biontech-Aufsichtsratschef Helmut Jeggle erinnert sich im Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“an diese Zeit. „Wir waren begeistert von der Art und Weise, wie Sahin und Türeci Wissenschaft betreiben. Nach einer Präsentation saßen wir zu siebt am Tisch und beschlossen, die Projekte auf mRNA-Basis nachhaltig zu finanzieren“, erzählt Jeggle. Die Strüngmanns werden zu den wichtigsten Geldgebern von Biontech. 2019 kommen dann erste konkrete Erfolgsmeldungen: Die Forscher des Unternehmens heilen Krebspatienten mit ihrer experimentellen Therapie.
Der Schritt von Sahin und Türeci, vor einem Jahr die gesamten Kapazitäten von Biontech auf die Entwicklung eines Corona-Impfstoffes zu setzen, erscheint im Rückblick klug und sinnvoll, war in der Situation jedoch enorm riskant. Wenn das Vakzin nicht funktioniert, wenn das Projekt sich als eine Nummer zu groß herausstellt, hat ein kleines Unternehmen sein Kapital verbrannt. Türeci und Sahin zeigen sich jetzt als Unternehmer im besten Sinn. Sie gehen Risiken ein, um ihre Firma voranzubringen – und nützen zugleich der Gesellschaft und der Gesamtwirtschaft. Die Entwicklung des Impfstoffs war auch nicht von Steuergeld finanziert, wie häufig angenommen wird, sondern rein privat.
Auch die frühe Entscheidung für den US-Konzern Pfizer als Partner erwies sich als richtig. Während Deutschland noch diskutierte, ob Corona überhaupt eine reale Gefahr sei, entwarf Pfizer bereits Studien, die genau die richtigen Fragen beantworteten. Anders als bei Astra-Zeneca lag ein Fokus durchaus bei älteren Testpersonen, die den Impfstoff tatsächlich am nötigsten brauchen. Die Partner organisierten da auch schon den Übergang zur Massenproduktion. Für Biontech war auch das ein riskanter Schritt. Das Unternehmen hatte bisher nur Einzeldosen seiner Wirkstoffe für Forschungszwecke hergestellt. Das Führungsteam um Türeci und Sahin arbeitete Tag und Nacht, um Herstellungspartner heranzuziehen.
Der Kontrast zu anderen Pharmaherstellern zeigt, wie gut Biontech in dieser schwierigen Zeit organisiert war. Zwar haben die Regierungen beim Konkurrenten Astra-Zeneca mehr Dosen bestellt. Astra-Zeneca hat seine Lieferfähigkeit jedoch konstant überschätzt und auch durch seine Studienanordnung für Verwirrung gesorgt. Der französische Hersteller Sanofi ist mit seinem Impfstoffprojekt sogar komplett gescheitert. Biontech hält dagegen nicht nur seine Versprechen, sondern übertrifft sie sogar. In den kommenden Wochen erhält die EU zehn Millionen zusätzliche Dosen, die über den vorher mitgeteilten Lieferplan hinausgehen.
Natürlich hat sich der Einsatz auch für Sahin und Türeci gelohnt. Die Gründer sind heute, nachdem der Aktienkurs so stark gestiegen ist, mehrfache Milliardäre. Wegbegleiter beschreiben die beiden jedoch weiterhin als zurückhaltendes Ehepaar – kein Vergleich mit den abgehobenen Entrepreneuren aus der Welt des Silicon Valley. So hat sie am Freitag auch der Bundespräsident im Schloss Bellevue kennengelernt: bescheiden – und sichtbar überarbeitet.