Erdogan führt die EU vor
Die Demütigung für EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen bei ihrem Besuch in Ankara veranschaulicht die Dynamik zwischen Europa und der Türkei. Von der Leyen weiß genau, dass Bilder Macht sind. Dennoch nahm sie es beim Treffen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan hin, dass sie von ihrem Gastgeber vor laufenden Kameras auf ein Sofa verbannt und degradiert wurde. Von der Leyens EU-Kollege, Ratspräsident Charles Michel, schaute tatenlos zu. Mit diesem einfachen Mittel schaffte es Erdogan, die Europäer vorzuführen.
Beim Besuch in Ankara wurde deutlich, wie die neue Normalität der Kräfteverhältnisse in den Beziehungen zwischen der Türkei und Europa aussieht. Weil das Projekt einer türkischen Mitgliedschaft nur noch auf dem Papier besteht, fühlt sich die Türkei befreit von den Zwängen eines Bewerberstaates, der sich an demokratische Vorgaben halten muss.
Längst hat sich die Türkei von den traditionellen Grundsätzen ihrer Außenpolitik als Frontstaat des Westens entfernt. Das Land sieht sich als Regionalmacht, die mit Akteuren wie den USA, der EU, Russland und China auf Augenhöhe umgehen kann. Eine Unterordnung unter europäische Normen hat da keinen Platz. Für eine Verbesserung der Beziehungen seien „konkrete Schritte“der EU notwendig, sagte Erdogan seinen Gästen. Hinweise auf demokratische und rechtsstaatliche Rückschritte ließ er nicht gelten.
Von der Leyen betonte die Position der EU als größte Handelspartnerin der Türkei, um Erdogan klarzumachen, dass Europa Trümpfe in der Hand hat. Der Verzicht auf Sanktionen wegen des türkischen Verhaltens im Mittelmeer zeigt aber, dass Europa zögert, diese Trümpfe auszuspielen. Deutschland etwa ist mit Tausenden Firmen in der Türkei engagiert und scheut die Sanktionen. Erdogan kann sogar die EU-Chefin als Statistin behandeln, ohne dass die Europäer sich wehren. Trotz der Sofaszene sprach von der Leyen hinterher von „einer positiven Agenda“. Dabei ist sicher: Wäre Erdogan in Brüssel so behandelt worden, hätte er auf dem Absatz kehrtgemacht.
politik@schwaebische.de