Auf weiter Flur
Einen sehr hohen Stellenwert hat in Oberschwaben der Weingartnener Blutritt. So ist es für Reiter sowie Gläubige ein schwerer Schlag, nun schon zum zweiten Mal harte Corona-Einschränkungen erdulden zu müssen. Wenn überhaupt von der Inzidenzzahl her möglich, sollen am 14. Mai nur 200 Pferde statt der üblichen rund 2500 über die Fluren ziehen dürfen. Aber über die und nicht über die wie vor Kurzem in der „Schwäbischen“mehrfach zu lesen war. Weil dieser Fehler immer wieder durch die Medien geistert, spießen wir ihn kurz auf.
Wie so oft in der Sprache, entstanden hier aus einer Wurzel mehrere Triebe. Vereinfacht dargestellt: Am Anfang gab es ein althochdeutsches Wort
das verschiedene Bedeutungen abdeckte:
Dann kam es schon im Mittelalter zu einer Trennung in puncto Geschlecht, und heute kennen wir einerseits
im Sinn von andererseits
Sinn von
Aus der deutschen Dichtung, insbesondere der Klassik und der Romantik, ist die als Symbol für Natursehnsucht nicht wegzudenken. Hier die üblichen Verdächtigen: und im
So heißt es in Goethes „Mailied“. Und in Schillers „Lied von der Glocke“lesen wir: Errötend folgt er ihren Spuren / Und ist von ihrem Gruß beglückt, / Das Schönste sucht er auf den Fluren, / Womit er seine Liebe schmückt. Eichendorf ließ wie stets seiner Unrast freien Lauf:
Uhland lieferte uns eine gängige Redensart: Das ist der Tag des Herrn! / Ich bin allein auf weiter Flur. Und Rilkes Herbst-Verse Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und auf den Fluren lass die Winde los finden sich im Tornister aller deutschen Bildungsbürger.
Nun gehören Wörter wie oder immer noch zum deutschen Wortschatz, aber zum Spaziergang rückt keiner mehr aus. Das klingt für unsere Ohren eine Spur zu poetisch. Im religiösen Umfeld hat sich das Wort allerdings ebenfalls erhalten.
steht auf unzähligen Kreuzen, an denen Gläubige bei vorbeiziehen – oder eben bei
wie in Weingarten.
Wenn man bei diesem Lapsus
kurz lächeln musste, so hatte das Gründe: Unwillkürlich kam einem jenes einfältige Liedchen in den Sinn, mit dem das Duo vor knapp 40 Jahren bei TV-Blödelshows punktete: „Da steht ein Pferd aufm Flur“. Zudem wurden Kindheitserlebnisse wach.
Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutungen und Schreibweisen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.
Erich Kästner stand hoch im Kurs bei uns: „Emil und die Detektive“, „Pünktchen und Anton“, „Das doppelte Lottchen“... Sein Buch „Der 35. Mai“war nicht so gefragt, dabei garantiert diese Geschichte enorme Fantasieschübe. Da steht auch ein Pferd aufm Flur. Sein Name und seine Besonderheit: Es läuft Rollschuh. Auf seinem Rücken rollern dann der Schuljunge Konrad und sein Apotheker-Onkel Ringelhuth bis in die Südsee, wo sie auf den Insulanerhäuptling Rabenaas und dessen schwarz-weiße Tochter Petersilie treffen … Ketzerischer Gedanke am Rande: als Vorname? Eine BIPoC namens
Ein Mädchen mit Schachbretthaut? Politisch korrekte KinderbuchKommissare scheinen diesen Roman noch nicht entdeckt zu haben. Hoffen wir, dass das so bleibt!
Und hoffen wir, dass letztlich die 200 Caballos in Weingarten ausrücken dürfen – über die wohlgemerkt.
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r.waldvogel@schwaebische.de