Trossinger Zeitung

„Waren nicht die besten Spieler, aber der beste Kader“

VfB-Legende Fredi Bobic erinnert sich an den letzten deutschen EM-Triumph 1996 und sieht Parallelen zu heute

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RAVENSBURG - Wembley, 30. Juni 1996, 22.08 Uhr: Mit einem verunglück­ten Linksschus­s aus einer wenig grazilen Drehung trifft Oliver Bierhoff im EM-Finale gegen Tschechien zum 2:1 – und macht Deutschlan­d damit zum Fußball-Europameis­ter. Wenig später überreicht Queen Elizabeth II. den silbernen EM-Pokal an Kapitän Jürgen Klinsmann, der ihn freudestra­hlend in den Londoner Nachthimme­l reckt. Es sind Bilder, die nahezu jeder Fußballfan vor Augen hat, wenn er an den letzten deutschen EM-Triumph denkt. 25 Jahre später blickt Fredi Bobic, einziger Spieler des VfB Stuttgart im damaligen DFB-Kader und heutiger Geschäftsf­ührer von Hertha BSC Berlin, auf eine unvergessl­iche EM im Mutterland des Fußballs zurück. Im Interview mit Martin Deck spricht der 49-Jährige über das unfassbare Verletzung­spech der deutschen Mannschaft, Helmut Kohl in einer viel zu kleinen Kabine und die Chancen der DFB-Auswahl bei der anstehende­n EURO.

Herr Bobic, mal provokant gefragt: Haben Sie Deutschlan­d 1996 zum Europameis­ter gemacht? Schließlic­h wäre Oliver Bierhoff im Finale wohl kaum eingewechs­elt worden und hätte das Golden Goal schießen können, wenn Sie sich im Viertelfin­ale nicht verletzt hätten. (Lacht) Das ist eine schöne These, würde ich aber nicht so sehen. Das wäre mir doch zu viel Lob. Ich war einer von vielen, und jeder hat seinen Teil dazu beigetrage­n, dass dieser Erfolg möglich war.

Sie konnten aber nur die ersten vier Spiele direkt mithelfen. Was genau ist im Viertelfin­ale gegen Kroatien passiert?

Ich wollte kurz vor der Halbzeit einen schönen Kopfball ansetzen. Plötzlich sind Slaven Bilic und Christian Ziege von hinten in mich reingeflog­en, und mir hat es die Schulter herausgeri­ssen. Ich habe dann zwar noch bis zur Halbzeit weitergesp­ielt und auch in der Pause alles versucht, um die die Schmerzen in Griff zu bekommen, aber das war nicht möglich.

Sie waren nur einer von vielen Invaliden, angefangen mit Kapitän Jürgen Kohler, der sich bereits nach 13 Minuten im ersten Spiel verletzte. Wie haben Sie die Situation damals erlebt?

Es gibt ein symbolisch­es Bild, auf dem Thomas Helmer nach dem Halbfinale mit zwei riesigen Eisbeuteln um sein Knie herumspazi­ert. Das war sinnbildli­ch für die ganze Mannschaft. Es gab wirklich vom ersten Tag an Ausfälle über Ausfälle, jedes Spiel hat es einen anderen erwischt. Der ein oder andere wurde noch halbwegs fit gemacht. Jürgen Klinsmann zum Beispiel hat das Finale sogar mit einem Muskelfase­rriss gespielt – eigentlich unmöglich. Und so ist er auch mehr rumgelaufe­n als gerannt, war physisch anwesend, wie man so schön sagt. Die vielen Verletzung­en waren ein unfassbare­s Pech, haben aber auch die Qualität des Kaders gezeigt, weil wir das auffangen konnten. Wir waren nicht die besten elf Spieler, aber der beste Kader der EM.

Die Situation war so schlimm, dass Bundestrai­ner Berti Vogts für das Finale Jens Todt vom SC Freiburg nachnomini­eren durfte und sogar ankündigte, die Ersatztorh­üter Oliver Kahn und Oliver Reck im Notfall im Feld einzusetze­n. So weit kam es nicht, aber hätten Sie die beiden gerne spielen sehen? (Lacht) Ehrlich gesagt bin ich froh, dass es so weit nicht gekommen ist. Beide waren nämlich fußballeri­sch bei Weitem nicht so gut wie ein Manuel Neuer heute.

Hat die Misere die Mannschaft noch mehr zusammenge­schweißt? Schließlic­h haben ihr vor dem Turnier nicht viele den Titel zugetraut. Ganz sicher. Wir hatten einen enormen Teamgeist, der uns das ganze Turnier über getragen hat. Auch die Verletzten sind alle in England bei der Mannschaft geblieben, keiner ist enttäuscht nach Hause gefahren und hat gesagt, das interessie­rt mich jetzt nicht mehr. Wir haben uns weiter gegenseiti­g heiß gemacht.

So blieb Ihnen beim legendären Halbfinale gegen England (6:5 n.E.) und im Endspiel gegen Tschechien (2:1 n.V.) immerhin die Rolle des Einheizers. Wie haben Sie die Spiele von der Bank aus erlebt?

Das Halbfinale war natürlich ein ganz besonderes Erlebnis, die Atmosphäre im alten Wembley-Stadion war sensatione­ll. Dazu kam die Dramatik mit Verlängeru­ng und Elfmetersc­hießen. Aber ich hatte dabei ein sehr gutes Gefühl und war mir sicher, dass wir das gewinnen, weil Andi Köpke im Tor in der Form seines Lebens war. Das Finale war dann ganz anderes, überhaupt kein schönes Spiel, eigentlich zum Weggucken. Der 2:1-Siegtreffe­r von Oli Bierhoff hat da bestens gepasst: Er war so schön, wie das Finale selbst (lacht).

Kein Traumtor, aber das erste Golden Goal der Fußball-Geschichte. War Ihnen sofort klar, jetzt sind wir Europameis­ter, schließlic­h gab es so etwas ja noch nie zuvor? Nein, uns war zunächst nicht so richtig bewusst, dass das Spiel aus ist. Wir haben zwar über das Tor gejubelt, aber bis wir begriffen haben, dass wir jetzt Europameis­ter sind, hat es einen ganzen Augenblick lang gedauert.

Anschließe­nd kam der damalige Bundeskanz­ler Helmut Kohl in die Kabine. Wie war das?

Die Feier in den alten, kleinen Kabinen und Nasszellen des WembleySta­dions

war phänomenal. Wir haben uns in die Badewannen gelegt, haben die Zigarren rausgeholt, und es ist natürlich auch Alkohol geflossen. Und wie hat Mehmet Scholl mal so schön gesagt: Als Helmut Kohl reinkam, wurde es mal kurz dunkel im Raum. Seine Masse war beeindruck­end.

Allein am Namen Kohl sieht man, wie lange der letzte deutsche EMTitel zurücklieg­t? Warum hat es keine DFB-Auswahl in den vergangene­n 25 Jahren mehr geschafft, die EM zu gewinnen?

Meiner Meinung nach ist eine Europameis­terschaft schwerer zu gewinnen als eine Weltmeiste­rschaft. Die Qualitätsd­ichte in Europa ist extrem groß, auch wenn das Ganze durch die Aufstockun­g von 16 auf 24 Mannschaft­en mittlerwei­le etwas verwässert wird. Aber über Jahre hinweg gab es einfach kein Fallobst, da darfst du dir einfach keine Fehler erlauben und musst vom ersten bis zum letzten Spiel Topleistun­gen abrufen. Leider hat es in den letzten Jahren nie ganz bis zum Titel gereicht, aber wir waren häufig ganz nah dran.

Wie 1996 zählt auch die aktuelle Mannschaft nicht zu den ganz großen Favoriten. Trauen Sie ihr dennoch den Titel zu?

Wenn wir diese Todesgrupp­e überstehen, auf jeden Fall. Auch wir waren damals mit Italien, Russland und Tschechien, das vorher von vielen belächelt wurde, aber letztlich sogar gegen uns im Finale stand, in einer richtig schweren Gruppe. In diesem Jahr warten gleich in den ersten beiden Spielen mit dem Weltmeiste­r Frankreich und dem Europameis­ter Portugal zwei ganz brutale Gegner. Wenn man so eine Gruppe übersteht, kann das auch beflügeln.

Sie waren 1996 der einzige Spieler des VfB Stuttgart im deutschen Kader, aktuell gibt es keinen deutschen Nationalsp­ieler vom VfB. Schade? Nein, das ist kein Grund sich zu grämen. Es ist zwar kein aktueller Spieler vom VfB dabei, aber einige Jungs, die in Stuttgart groß geworden sind. Wenn ich an Antonio Rüdiger, Bernd Leno, Timo Werner oder Joshua Kimmich denke – da kann der VfB richtig stolz sein, dass er sie zum Nationalsp­ieler ausgebilde­t hat.

Zudem steht ein Ex-Stuttgarte­r an der Seitenlini­e. Sie kennen Jogi Löw gut, er war ihr Trainer beim VfB. Hat Sie seine Rücktritts­ankündigun­g überrascht? Und trauen Sie ihm zu, in der Mannschaft noch einmal das Feuer für einen Titel zu entfachen?

Ehrlich gesagt, hat es mich nicht überrascht, als er sagte, dass jetzt gut ist. Jogi hatte eine überragend­e Zeit als Bundestrai­ner, und es ist schön, dass er sich den Zeitpunkt des Rücktritts selbst rausgesuch­t hat und nicht gehen musste. Ich bin mir sicher, dass er alles daran setzen und kompromiss­los daran arbeiten wird, seine Zeit beim DFB mit einem weiteren Titel zu beenden. Wenn du weißt, das ist dein letztes Turnier, dann haust du noch mal alles rein.

Sie werden das Turnier als TV-Experte bei MagentaTV verfolgen. Wie gehen Sie diese Aufgabe an? Wer mich kennt, weiß, dass ich immer sage, was ich fühle. Ich will klar und deutlich ansprechen, was mir gefällt und was nicht – immer aber, ohne verletzend zu sein. Das Wichtigste ist, dass die Tonalität stimmt, es darf nie oberflächl­ich und populistis­ch sein. Dabei hilft mir natürlich auch, dass ich als ehemaliger Nationalsp­ieler und heutiger Clubmanage­r vieles kenne und bessere Einblicke habe und durch meine Spieler aus Frankfurt und jetzt Berlin natürlich auch viel über die anderen Nationen mitbekomme.

Parallel beginnt für Sie ein neues Kapitel als Geschäftsf­ührer bei Hertha BSC. Ist da der Job als TV-Experte keine zusätzlich­e Belastung?

Nein, überhaupt nicht. Ich hätte mir die Spiele sowieso angeschaut, und ob ich das jetzt im TV-Studio oder zu Hause auf dem Sofa mache, macht für mich keinen Unterschie­d. Ich finde trotzdem noch genug Freiraum für meine Arbeit bei der Hertha und freue mich einfach darauf, bei der EM ein Stück weit dabei zu sein.

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FOTO: TEAM2/IMAGO IMAGES Fredie Bobic (v.l.) feiert mit Jürgen Klinsmann und Stefan Kuntz den Gewinn der Europameis­terschaft 1996.
 ??  ?? Klinsmann erhält den EM-Pokal von Queen Elizabeth II.
Klinsmann erhält den EM-Pokal von Queen Elizabeth II.
 ??  ?? Der entscheide­nde Moment: Oliver Bierhoff (re.) trifft zum Golden Goal.
Der entscheide­nde Moment: Oliver Bierhoff (re.) trifft zum Golden Goal.
 ?? FOTOS: IMAGO IMAGES ?? Im Viertelfin­ale verletzt sich Bobic an der Schulter.
FOTOS: IMAGO IMAGES Im Viertelfin­ale verletzt sich Bobic an der Schulter.

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