Mitte statt Ideologie
Der grüne Höhenflug dauerte ein paar Wochen. Befeuert wurde er durch den klaren Wahlsieg von Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann. Geschürt wurde er von den Granden der CDU/CSU, die sich nicht so recht auf ihren Kanzlerkandidaten einigen wollten. Indes präsentierten die Grünen mit Annalena Baerbock ihre Bewerberin für das Amt der Regierungschefin, ohne dass es vorher zu größeren Verwerfungen gekommen war. Auch dürfte es einer Mehrheit in der Bevölkerung klar sein, dass deutlich mehr für den Klimaschutz getan werden muss. Kurzum: Auf einmal schien das Kanzleramt für die Umweltschützer zum Greifen nah.
Doch in der Zwischenzeit hat sich die Union unter Parteichef Armin Laschet stabilisiert, während die Grünen Fehler begehen. Offensichtlich haben sie die Wucht unterschätzt, mit der ein Bundestagswahlkampf geführt wird. Baerbock wird hart angegangen und gibt mit einem schludrig geglätteten Lebenslauf ihren Gegnern Futter, obwohl sie einen Abschluss an der renommierten London School of Economics vorweisen kann. Für die sozialen Medien sind solche Kommunikationsfehler ein gefundenes Fressen.
Die grüne Spitzenkandidatin braucht deshalb an diesem Wochenende einen erfolgreichen Parteitag, um wieder in die Offensive zu kommen. Und das dürfte schwierig werden. Ein digitaler Kongress hat seine eigenen Gesetze, es kommen keine Emotionen auf und die Parteitagsregie kann nicht auf einzelne Gruppen einwirken, um seltsame Beschlüsse zu verhindern. Diese Gefahr wittert der hiesige Verkehrsminister Winfried Hermann. Der dem linken Flügel zugerechnete Profi appellierte an seine Parteifreunde, es mit den ideologisch motivierten Entscheidungen nicht zu übertreiben. Wer ab Herbst die Regierungsgeschäfte führen will, darf die Wähler nicht abschrecken. Auch für die Grünen gilt: Die Wahlen in Deutschland werden in der Mitte gewonnen. Ex-Parteichef Cem Özdemir warnte davor, in Schönheit sterben und auf jede Forderung noch einmal etwas draufsatteln zu wollen. Anders ausgedrückt: Es geht um die Regierungsfähigkeit der Grünen.
h.groth@schwaebische.de