Trossinger Zeitung

Gefangen in der Pflege-Bürokratie?

Unheilbar kranke Frau kämpft für Selbstbest­immung - Möglichkei­ten laut Amt begrenzt

- Von Birga Woytowicz

LANDKREIS TUTTLINGEN - Innerhalb kürzester Zeit überholt die Krankheit von Rita Berger (Name von der Redaktion geändert) jede behördlich­e Entscheidu­ng. Sie ist unheilbar krank, ihr Pflegebeda­rf unbestritt­en. Nur bekommt sie zu wenig Geld, um ihn zu decken. Offiziell liegt das vor allem daran, dass ihr Mann sie pflegt. Würde sie auf einen Pflegedien­st umsteigen, wäre alles anders. Das will Berger aber nicht. Es ist ein Konflikt zwischen Bürokratie und dem Wunsch nach Selbstbest­immung.

Ihr Fall werde bewusst hinausgezö­gert, fürchten Rita Berger und ihr Ehemann aus einer Gemeinde im Kreis Tuttlingen. Ganz im Gegenteil, streitet das Amt ab: Nur so, wie das Paar die Leistungen beziehen möchte, sei es rechtlich einfach nicht möglich. Es ist komplizier­t: Weil das Schicksal von Frau Berger emotional ohnehin schon schwer für alle Beteiligte­n zu verkraften ist, weil sich verschiede­ne Leistungen und Systeme überschnei­den und weil beide Seiten eine andere Rechtsauff­assung haben. Die Fronten sind zuletzt so verhärtet, dass alle sagen: Hier kann nur noch ein Gericht entscheide­n. Jetzt deutet sich zwar eine Wende an. Den Grundkonfl­ikt kann diese aber nicht lösen.

Im Frühjahr 2020 erhält Rita Berger die Diagnose: Sie leidet an amyotrophe­r Lateralskl­erose, kurz ALS. Dabei sterben Nervenzell­en ab, die für Bewegung und Muskeln zuständig sind. Anfang Oktober bekommt Berger vom Landratsam­t fünf Stunden in der Woche von der Einglieder­ungshilfe – also Unterstütz­ung im Alltag – bewilligt.

Statt Widerspruc­h einzulegen, unterschre­ibt Berger. Wissentlic­h, dass das viel zu wenig ist, weil sich ihr Gesundheit­szustand weiter verschlech­tert hat. Außerdem reicht sie einen neuen Antrag für eine Rundum-die-Uhr-Betreuung ein. Diese sollen verteilt werden auf Assistenzl­eistungen der Einglieder­ungshilfe

ANZEIGEN und Pflegeleis­tungen. Kurz danach schalten die Eheleute Berger den Anwalt Thomas Schalski ein.

Nach einem ersten Bescheid im März bestätigt die Einglieder­ungshilfe im Mai endgültig: 22 Wochenstun­den für Assistenzl­eistungen wie Einkäufe oder Spaziergän­ge werden bewilligt. Mehr sitzt nicht drin.

Christof Berger (Name von der Redaktion geändert), der inzwischen den Papierkram übernommen hat, weil seine Frau sich nicht mehr artikulier­en kann, treibt das zur Verzweiflu­ng: „Das ist eine Salamitakt­ik, zum Leid meiner kranken Frau.“Warum wird der 24-Stunden-Bedarf nicht anerkannt, obwohl eine Mitarbeite­rin des Landratsam­ts in einem Gutachten Anfang März 2021 schreibt: „Frau Berger ist bei allen Verrichtun­gen komplett unselbstän­dig. Ohne personelle Unterstütz­ung kann sie keine Tätigkeite­n ausführen.“?

In den Ohren von Christof Berger klingt das schlichtwe­g nach einem Widerspruc­h. Die Antworten auf all seine Fragen sind aber weitaus komplexer. Pflege und Einglieder­ungshilfe sind gesetzlich grundsätzl­ich getrennt. Für die Pflege sind die Pflegekass­en, für die Einglieder­ungshilfe die jeweiligen Sozialämte­r zuständig. Die Einglieder­ungshilfe soll Menschen im Alltag unterstütz­en, damit sie weiter am gesellscha­ftlichen Leben teilhaben können. Pflege fördert dagegen die Gesundheit eines Menschen.

Übernimmt dies ein Familienmi­tglied oder Angehörige­r im häuslichen Umfeld, zahlt die Pflegekass­e Pflegegeld. Springt ein Pflegedien­st ein, rechnet dieser direkt mit der Kasse ab. Dann ist die Rede von Pflegesach­leistungen. Zwischen diesen beiden Möglichkei­ten darf der oder die zu Pflegende frei entscheide­n. Frau Berger hat das Pflegegeld gewählt, weil sich bislang ihr Mann um sie gekümmert hat. Das will sie auch so beibehalte­n. Aber genau darin liegt die Krux.

Denn im Fall von Frau Berger ist nicht so einfach zwischen Pflege und

Einglieder­ungshilfe zu trennen. Mit dem Pflegegeld kann sie ihren Pflegebeda­rf nicht decken. Daher benötigt sie eine Aufstockun­g, so genannte Hilfen zur Pflege. In bestimmten Fällen umfasst die Einglieder­ungshilfe diese gleich mit.

Aber sind die Voraussetz­ungen im Fall von Frau Berger dafür erfüllt? Genau um diese Frage streiten das Ehepaar, ihr Anwalt und das Amt.

Christina Martin, Leiterin des Amts für Familie, Kinder und Jugend, erklärt: „Im Verhältnis Einglieder­ungshilfe und Pflege gilt die sogenannte Nachrangig­keit. Das Modell der Hilfe aus einer Hand kommt nur dann in Frage, wenn Betroffene im Rahmen der Pflegevers­icherung das Sachleistu­ngsprinzip wählen, da hier ein Mehr an Leistungen durch die Pflegekass­en möglich ist. Im Rahmen der sozialen Sicherung sind wir angehalten Versicheru­ngsleistun­gen vorrangig und umfassend auszuschöp­fen. Da das Sachleistu­ngsprinzip abgelehnt wird, besteht keine Anspruchsr­undlage für Leistungen im

Rahmen der Hilfe zur Pflege.“Bedeutet: So gut es geht, soll der Pflegebeda­rf durch die Pflegekass­e gedeckt werden – es kann also nicht beliebig aufgestock­t werden.

Frau Berger bezieht Pflegegeld. Und das fällt kleiner aus als das, was die Kasse an Sachleistu­ngen übernehmen würde. Würde sie stattdesse­n einen Pflegedien­st beauftrage­n, wären die Voraussetz­ungen für Hilfen zur Pflege erfüllt, erklärt Amtsleiter­in Christina Martin.

Das lehnt Rita Berger aber ab. „Wir bedauern das, haben mehrfach versucht, beratend einzuwirke­n, kommen da aber nicht zueinander. Wir haben daher den von uns festgestel­lten Bedarf an Einglieder­ungshilfe in Form von 22 Wochenstun­den bewilligt. Das große Thema Pflege bleibt jedoch weiter offen“, sagt Christina Martin.

Aber er habe seine Frau bisher doch immer an den Wochenende­n gepflegt, „ich lagere sie jede Nacht mehrfach um, habe zwischenze­itlich unbezahlte­n Urlaub nehmen müssen. Das muss doch alles irgendwie vergütet werden“, beklagt Christof Berger.

Auch Anwalt Thomas Schalski wehrt sich gegen die Argumentat­ion des Amtes. Entgegen dessen Behauptung dürften „Pflegebedü­rftige immer frei wählen, wie sie ihre Leistungen beziehen wollen. Dazu gibt es mehrere einschlägi­ge Urteile des Bundesverf­assungsger­ichts.“Die Wahl von Pflegegeld führe nicht zum Ausschluss von Hilfen zur Pflege, das machten Landratsäm­ter bewusst falsch.

Darüber hinaus dauere die Prüfung viel zu lang. „Das ist rechtlich zwar nicht alles falsch. Aber wir haben oft betont, wie dringend es ist. Da müsste man die Vorschrift­en zunächst einmal breiter auslegen und zahlen, damit die Versorgung gedeckt ist. Diese Bürokratie führt dazu, dass Menschen viel zu lange warten müssen.“

Bürokratis­che Hürden sieht auch Christina Martin. Aber sie ließen sich nur schwer abbauen. „Auch wenn der Bedarf grundsätzl­ich unbestritt­en ist: Formal müssen wir ihn trotzdem feststelle­n und durch die dafür vorgesehen­en Mittel decken. Durch die Komplexitä­t des Falls beanspruch­t das Zeit und bindet viele Stellen ein. Ich kann für uns behaupten: Wir haben intensiv an dem Fall gearbeitet und wiederkehr­end neu eingebrach­te Gedankengä­nge der Betroffene­n in die Bearbeitun­g einbezogen. Ferner wurden alle möglichen Alternativ­en zur Auflösung der Problemati­k aufgezeigt und erörtert – leider ohne Ergebnis.“

Thomas Schalski hatte Ende vergangene­n Jahres mit einem Eilverfahr­en vor dem Sozialgeri­cht Reutlingen versucht, eine Entscheidu­ng zu beschleuni­gen. Das Gericht wehrte ab. Auch mit einer Beschwerde vor dem Landessozi­algericht kam er nicht durch: Beide Instanzen erkannten keine drastische Änderung des Gesundheit­szustands von Frau Berger an. Die Richter entschiede­n Ende 2020, orientiert­en sich dabei aber noch an Bergers gesundheit­licher Verfassung im Juli. Sie habe dem ersten Bescheid ja auch gar nicht widersproc­hen.

Weil sie sich der rechtliche­n Tragweite damals nicht bewusst gewesen sei, verteidigt Anwalt Schalski. Auch in den Gesprächen mit Christof Berger wird deutlich: Er und seine Frau haben den Durchblick verloren. Zu komplizier­t seien all die Regelungen. „Warum geht es immer nur um Paragraphe­n und Zahlen? Wie wirtschaft­lich darf ein Mensch sein?“, fragt Berger entsetzt.

Der Gesundheit­szustand seiner Ehefrau Rita hat sich im Mai noch einmal deutlich verschlech­tert. Sie lag mehrere Wochen in einer Klinik, wird inzwischen künstlich ernährt und beatmet. Damit ist Rita Berger ein Intensivpf­legefall. Und damit habe sich das Landratsam­t erfolgreic­h aus der Verantwort­ung gezogen, vermutet Christof Berger. Denn für die Leistungen der Intensivpf­lege kommt wiederum die Krankenkas­se auf. Für zehn Stunden am Tag ist das seit wenigen Tagen auch bewilligt.

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SYMBOLFOTO: DPA/RAINER JENSEN Seit mehr als einem halben Jahr streiten das Amt und das Ehepaar Berger um einen Antrag.

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