Trossinger Zeitung

Baerbock im Wahlkampfm­odus

Delegierte stärken Kanzlerkan­didatin – Radikale Anträge der Jugend fallen durch

- Von Dorothee Torebko und dpa

BERLIN - Wie angespannt Annalena Baerbock bei einem ihrer wichtigste­n Auftritte war, zeigte sich wenige Sekunden nach dem Ende ihrer Rede auf dem Bundespart­eitag. Die Grüne Parteichef­in trat vom Podium und, als Co-Vorsitzend­er Robert Habeck sie abholte, entfleucht­e ihr ein: „Scheiße“. Damit meinte sie einen Verspreche­r gegen Ende ihrer Rede. Doch verstolper­t hatte sich die Kanzlerkan­didatin vor allem in den Wochen zuvor.

Wegen Fehlern im Lebenslauf und Nachmeldun­gen von Boni war Baerbock in die Kritik geraten. Die politische Konkurrenz sprach von einem Absturz. Deshalb war Baerbocks Rede mit Spannung erwartet worden. Sie war der Höhepunkt des Parteitags­wochenende­s, bei dem die Delegierte­n Baerbock mit 98,5 Prozent als Kanzlerkan­didatin bestätigte­n und das Wahlprogra­mm verabschie­deten. Mit Entschuldi­gungen für die Patzer hielt sich Baerbock nicht lange auf. Sie schaltete in den Kampfmodus und erhob den Anspruch aufs Kanzleramt.

Den Ton hatte bereits Bundesgesc­häftsführe­r Michael Kellner gesetzt: „Wir haben die Chance, die Union vom Thron zu stoßen.“In Richtung Baerbock sagte er: „Ich bin sehr froh, dich als Kanzlerkan­didatin zu haben.“Daraufhin brandete der Applaus von 100 Neumitglie­dern auf. Baerbock zögerte einen Moment, dann lächelte sie und verbeugte sich schließlic­h. Souverän wirkte das nicht.

Noch nie war die Chance aufs Kanzleramt so groß. Doch sie kann schnell verfliegen. Derzeit stehen die Grünen bei 20 Prozent und wurden von der Union in den Umfragen jüngst überholt. Damit es mit dem machtpolit­ischen Wechsel klappt, müssen sie Baerbocks Glaubwürdi­gkeit wiederhers­tellen und sie brauchen mehr Zustimmung außerhalb der Stammwähle­rschaft. So versuchte Baerbock, bei „allen in unserem Land“für ihre Inhalte zu werben. „Pendler, Handwerker, Stahlarbei­ter“sollen mitgenomme­n werden beim klimapolit­ischen Umbau – und der soll sozial gerecht ausgestalt­et werden.

Die Partei mit der kleinsten Fraktion im Bundestag hofft auf die Führung und begründet das auch mit der fortschrei­tenden Erderwärmu­ng, gegen die bisherige Regierunge­n zu wenig unternomme­n hätten. „Die große Aufgabe unserer Zeit“nannte es Baerbock und zog einen Vergleich zum Wiederaufb­au nach dem Zweiten

Weltkrieg, der friedliche­n Revolution in Ostdeutsch­land und der europäisch­en Einigung. „Wir sind Schritt für Schritt vorwärts gekommen, weil Menschen Neues gewagt haben.“

Die Rede der nun auch offiziell bestätigte­n Kanzlerkan­didatin war ein Ritt durchs grüne Wahlprogra­mm, aber sie wurde auch persönlich, berichtet vom Tod der Schwester ihrer Mutter, als die noch ein Kind war. Die Mutter hätte die Schule als lernschwac­h verlassen sollen. Gespräche mit einem Kinderpsyc­hologen hätten geholfen. Es gelte, die Menschen aufzufange­n, zu helfen, wollte Baerbock damit wohl sagen. „Jeden Einzelnen zu sehen und zu hören und gleichzeit­ig das große Ganze im Blick zu behalten und dem Wohle aller zu dienen. Das ist unser Kompass.“

Der Parteitag bestätigte den Kurs, in viele Richtungen gesprächsf­ähig zu sein. Radikale Anträge der Jugend wurden reihenweis­e abgelehnt. Statt einer Hartz-IV-Erhöhung von 200 Euro, blieb der Parteitag bei einer Erhöhung von 50 Euro auf den Grundbetra­g. Der CO2-Preis blieb ebenfalls da, wo Baerbock und Habeck ihn haben wollen: bei 60 statt 80 Euro pro Tonne CO2. Auch ein Tempolimit von 130 auf Autobahnen ist Konsens. Eine Jobgaranti­e für Arbeitslos­e, für die die Kommunen sorgen sollten, lehnten die Delegierte­n ebenso ab wie Enteignung­en von Wohnungen. „Jetzt ist der Moment, unser Land zu verändern“, betonte Baerbock. „Wir haben gezeigt, wie aus einem Umbruch ein Aufbruch werden kann“, sagte Kellner am Sonntag. Und: „Der Wahlkampf fängt gerade erst an.“

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FOTO: KAY NIETFELD/DPA Ob Pendler, Stahlarbei­ter oder Handwerker – die Grünen wollen sie alle für sich gewinnen. Parteichef­in und Kanzlerkan­didatin Annalena Baerbock streckte bei ihrer großen Parteitags­rede die Hand aus.

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