Hauptstadt aller Drogen
Roland Schimmelpfennigs neuer Roman ist das überzeugende Panorama des multiethnischen Berlin
Da ist dieses Tattoo auf dem Rücken einer Toten, das eher ein Gemälde sich rankender Pflanzen zu sein scheint. Da sind aber auch die Berliner Technoszene und eine Menge Drogen verbunden mit diesem Gefühl, am nächsten Tag nicht zu wissen, was in der Nacht zuvor los war. Die Frauenleiche im Landwehrkanal zum Beispiel, die dort etwas mehr als ein Jahrhundert nach Rosa Luxemburg im Wasser trieb, könnte eine real existierende Tote gewesen sein, vielleicht war sie aber auch nur die halluzinatorische Ausgeburt eines Hirns, das sich deshalb so gut mit Drogen auskennt, weil es im Körper eines Drogenfahnders steckt. Und so bewegt sich Roland Schimmelpfennigs Roman „Die Linie zwischen Tag und Nacht“als ein halluzinatorischer Berlin-Trip zwischen den Welten.
Tommy, so der Name des Drogenfahnders, steht demnächst selbst vor
Gericht und hat gerade nichts zu tun, außer sich Techno Beats und einem Berlin hinzugeben, das so divers und multiethnisch ist, wie es es München nie wird sein können. Er machte den Fehler, sich mit der Berliner Drogenmafia einzulassen und in irreal verrückte Realitäten einzutauchen, mit denen Roland Schimmelpfennig schon vor zwanzig Jahren das Theaterpublikum beglückte.
Damals geisterte am Stuttgarter Staatstheater nicht nur ein multikulturelles Bühnenpersonal durch ein Hochhaus. Mit
„Die arabische Nacht“startete Schimmelpfennig auch seine Karriere als einer der erfolgreichsten Theaterautoren im deutschsprachigen Raum. Mehr als 30 Theaterstücke später und bevor am Stuttgarts Staatsschauspiel mit „Siebzehn Skizzen aus der Dunkelheit“
sein nächstes Bühnenwerk zur Uraufführung kommt, hat er seinen dritten Roman vorgelegt.
„Die Linie zwischen Tag und Nacht“spielt in einer Stadt, die nicht nur die Hauptstadt aller Deutschen, sondern auch die aller Drogen ist. Es geht um brüchige Identitäten und sprachlich wesentlich rauer zu, als wir das vom Dramatiker Schimmelpfennig kennen. Ein Mensch zumindest scheint real zu sein: Vinh, die Vietnamesin, die zu intelligent für Berlin ist und deshalb in Harvard studiert, plötzlich aber doch wieder vor Tommy steht und eigentlich zu jung ist für den entgleisten Fahnder.
Nach knapp hundert Seiten wechselt Schimmelpfennig allerdings den Erzählton. Aus dem Hauptstadtdschungel wird ein etwas weniger drogendurchseuchtes Milieu
und aus dem Ex-Cop ein Mann, der das Geheimnis der toten Frau im Landwehrkanal doch noch lüftet. Bevor es soweit ist, verweist Tommy allerdings noch auf ein Treffen in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, wo ein gewisser Anis Amri eine Terrorspur hinterließ. Dass Roland Schimmelpfennig etwas derart Offensichtliches einfließen lässt, könnte damit zu tun haben, dass er denkt, es bringe zeitgenössische Relevanz in die Reise durch ein kaputtes Berlin.
Überflüssig ist es auch deshalb, weil sein dritter Roman zu diesem Zeitpunkt kein Drogentrip mehr ist, sondern das überzeugende Panorama einer multiethnischen Großstadt.