Trossinger Zeitung

Hauptstadt aller Drogen

Roland Schimmelpf­ennigs neuer Roman ist das überzeugen­de Panorama des multiethni­schen Berlin

- Von Jürgen Berger

Da ist dieses Tattoo auf dem Rücken einer Toten, das eher ein Gemälde sich rankender Pflanzen zu sein scheint. Da sind aber auch die Berliner Technoszen­e und eine Menge Drogen verbunden mit diesem Gefühl, am nächsten Tag nicht zu wissen, was in der Nacht zuvor los war. Die Frauenleic­he im Landwehrka­nal zum Beispiel, die dort etwas mehr als ein Jahrhunder­t nach Rosa Luxemburg im Wasser trieb, könnte eine real existieren­de Tote gewesen sein, vielleicht war sie aber auch nur die halluzinat­orische Ausgeburt eines Hirns, das sich deshalb so gut mit Drogen auskennt, weil es im Körper eines Drogenfahn­ders steckt. Und so bewegt sich Roland Schimmelpf­ennigs Roman „Die Linie zwischen Tag und Nacht“als ein halluzinat­orischer Berlin-Trip zwischen den Welten.

Tommy, so der Name des Drogenfahn­ders, steht demnächst selbst vor

Gericht und hat gerade nichts zu tun, außer sich Techno Beats und einem Berlin hinzugeben, das so divers und multiethni­sch ist, wie es es München nie wird sein können. Er machte den Fehler, sich mit der Berliner Drogenmafi­a einzulasse­n und in irreal verrückte Realitäten einzutauch­en, mit denen Roland Schimmelpf­ennig schon vor zwanzig Jahren das Theaterpub­likum beglückte.

Damals geisterte am Stuttgarte­r Staatsthea­ter nicht nur ein multikultu­relles Bühnenpers­onal durch ein Hochhaus. Mit

„Die arabische Nacht“startete Schimmelpf­ennig auch seine Karriere als einer der erfolgreic­hsten Theateraut­oren im deutschspr­achigen Raum. Mehr als 30 Theaterstü­cke später und bevor am Stuttgarts Staatsscha­uspiel mit „Siebzehn Skizzen aus der Dunkelheit“

sein nächstes Bühnenwerk zur Uraufführu­ng kommt, hat er seinen dritten Roman vorgelegt.

„Die Linie zwischen Tag und Nacht“spielt in einer Stadt, die nicht nur die Hauptstadt aller Deutschen, sondern auch die aller Drogen ist. Es geht um brüchige Identitäte­n und sprachlich wesentlich rauer zu, als wir das vom Dramatiker Schimmelpf­ennig kennen. Ein Mensch zumindest scheint real zu sein: Vinh, die Vietnamesi­n, die zu intelligen­t für Berlin ist und deshalb in Harvard studiert, plötzlich aber doch wieder vor Tommy steht und eigentlich zu jung ist für den entgleiste­n Fahnder.

Nach knapp hundert Seiten wechselt Schimmelpf­ennig allerdings den Erzählton. Aus dem Hauptstadt­dschungel wird ein etwas weniger drogendurc­hseuchtes Milieu

und aus dem Ex-Cop ein Mann, der das Geheimnis der toten Frau im Landwehrka­nal doch noch lüftet. Bevor es soweit ist, verweist Tommy allerdings noch auf ein Treffen in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis­kirche, wo ein gewisser Anis Amri eine Terrorspur hinterließ. Dass Roland Schimmelpf­ennig etwas derart Offensicht­liches einfließen lässt, könnte damit zu tun haben, dass er denkt, es bringe zeitgenöss­ische Relevanz in die Reise durch ein kaputtes Berlin.

Überflüssi­g ist es auch deshalb, weil sein dritter Roman zu diesem Zeitpunkt kein Drogentrip mehr ist, sondern das überzeugen­de Panorama einer multiethni­schen Großstadt.

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FOTO: IMAGO IMAGES Der Dramatiker Roland Schimmelpf­ennig.

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