Viel Show mit Joe
Nato feiert nach Trump-Jahren ein „neues Kapitel“mit US-Präsident Biden – Hinter den Kulissen gibt es aber weiter viel Ärger
BRÜSSEL (dpa) - Austrittsdrohungen, Alleingänge und verbale Angriffe auf Bündnispartner: Für die Nato waren die vergangenen vier Jahre eine Schreckenszeit. Wie nie jemand zuvor weckte US-Präsident Donald Trump Zweifel daran, ob das 1949 gegründete transatlantische Verteidigungsbündnis eine Zukunft hat. Ohne Rücksicht auf die Folgen stellte er beispielsweise infrage, ob die USA im Ernstfall ihrer Verpflichtung zum militärischen Beistand nachkommen würden. Für ein Bündnis, das auf Abschreckung durch kollektive Verteidigung setzt, ein GAU.
Beim ersten Gipfel mit Trumps Nachfolger Joe Biden sollte am Montag nun gezeigt werden, dass all das nur eine kurze unglückselige Periode in der mittlerweile mehr als 70-jährigen Bündnisgeschichte war. „Ich will ganz Europa wissen lassen, dass die Vereinigten Staaten da sind“, kündigte ein strahlender Biden in der Nato-Zentrale in Brüssel an. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg jubilierte, man schlage nun „ein neues Kapitel in den transatlantischen Beziehungen“auf.
Beide Botschaften richteten sich vor allem auch an die Adresse von Russland und China. Diese beiden Länder stellen neben dem internationalen Terrorismus aus Nato-Sicht derzeit die größte Bedrohung für die Sicherheit im euro-atlantischen Raum dar.
Alles wieder gut also im Club der mittlerweile 30 Nato-Staaten? Zahlreiche Streitigkeiten hinter den Kulissen und neue Alleingänge von Bündnispartnern deuten auf anderes hin. Biden unterstreicht zwar seit seinem Amtsantritt – und ganz besonders jetzt bei seiner ersten Europareise – immer wieder den Zusammenhalt mit den Verbündeten. Dass er im Zweifelsfall aber auch alleine und gegen eindringliche Warnungen von Bündnispartnern entscheidet, hat er im Fall des Afghanistan-Einsatzes bewiesen.
Im April verkündete Biden den bedingungslosen Abzug der US-Soldaten bis spätestens zum 11. September, dem 20. Jahrestag der Terroranschläge von New York und Washington – wissend, dass das auch das Ende des Nato-Einsatzes in Afghanistan bedeuten würde. Die Bundesregierung
wollte das Ende des Nato-Einsatzes eigentlich vom Erfolg der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und Regierung in Kabul abhängig machen.
Unklar ist, ob sich die afghanische Regierung nach dem Truppenabzug überhaupt halten kann – ein bitteres Ergebnis nach fast zwei Jahrzehnten militärischem Engagement. Die „New York Times“berichtete vor wenigen Tagen über Gedankenspiele im Pentagon, zur Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte womöglich auch nach dem Abzug Luftangriffe zu fliegen, sollten Kabul oder eine andere wichtige afghanische Stadt an die Taliban zu fallen drohen.
Ein Sorgenkind der Nato bleibt auch die Türkei. Biden wollte am Rande des Nato-Gipfels mit Präsident Recep Tayyip Erdogan zusammenkommen. Nach Angaben von Bidens Nationalem Sicherheitsberater Jake Sullivan sollte es dabei auch um das russische S-400-Raketenabwehrsystem
gehen, das Erdogan trotz vehementer Proteste der USA und der Nato gekauft hat. Aus Sicht Washingtons gefährdet der Einsatz des Systems die Sicherheit von USSoldaten und von amerikanischer Militärtechnologie. Noch unter Trump schlossen die USA die Türkei wegen des Rüstungsdeals mit Moskau aus dem F-35-Kampfjet-Programm aus und verhängten Sanktionen.
Sullivan sprach vor dem bilateralen Gespräch diplomatisch von „Herausforderungen in unserem Verhältnis, einschließlich Fragen der Menschenrechte“. Noch als Kandidat hatte Biden einen härteren Kurs gegenüber Erdogan angekündigt. In einem Interview der „New York Times“nannte Biden den türkischen Präsidenten damals einen „Autokraten“, der einen Preis für sein Verhalten zahlen werde. Im April erkannte Biden die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich als Völkermord an – das türkische Außenministerium
verurteilte das „schwerwiegenden Fehler“.
Nicht nur die Türkei, auch NatoMitgliedstaaten wie Polen und Ungarn sind mit schweren Vorwürfen hinsichtlich der Einhaltung gemeinsamer Werte wie der Rechtsstaatlichkeit konfrontiert. Das Bündnis muss sich deshalb fragen, wie es von anderen Staaten die Einhaltung von Werten verlangen kann.
Das spielt gerade auch im Umgang mit China eine bedeutende Rolle. Gegenüber der Volksrepublik wird das Militärbündnis auf Druck der USA hin künftig einen deutlich härteren Kurs einschlagen. „Der wachsende Einfluss Chinas und seine internationale Politik können Herausforderungen bergen, die wir als Bündnis gemeinsam angehen müssen“, heißt es in der Abschlusserklärung. Erstmals wird das Land auch von der Nato geschlossen aufgerufen, seine „internationalen Verpflichtungen einzuhalten“und der „Rolle als Großmacht“gerecht zu als werden. Viele europäische Bündnispartner sehen die verstärkte Konzentration des Militärbündnisses auf die Volksrepublik skeptisch – auch weil sie fürchten, dass dadurch die wichtigen wirtschaftlichen Beziehungen zu dem riesigen Land gefährdet werden könnten. Am Ende wollte allerdings niemand ein Veto gegen eine deutliche Verschärfung des Kurses gegen China einlegen. Als Land, das jährlich immer noch mehr als doppelt so viel Geld für Verteidigung ausgibt wie alle anderen Bündnispartner zusammen, haben die Vereinigten Staaten in der Nato in der Regel das letzte Wort.
Für die meisten Bündnispartner dürfte allerdings gelten, dass sie erleichtert sind, dass das letzte Wort künftig nicht mehr von Trump kommt. „Es ist der erste Nato-Gipfel mit dem neuen amerikanischen Präsidenten Joe Biden und wir freuen uns natürlich auf unsere Zusammenarbeit“, sagte in Brüssel etwa Kanzlerin Angela Merkel (CDU).