Medizintechnikbranche bangt um Geschäft mit der Schweiz
Gescheitertes Rahmenabkommen mit der Europäischen Union macht neue Produktzulassungen notwendig
STUTTGART/RAVENSBURG - Nach dem Ende Mai gescheiterten Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) beklagen Medizintechnikunternehmen dies- und jenseits der Grenze erste negative Konsequenzen. Das Problem: Die bisher gegenseitig anerkannten Zulassungen für Medizinprodukte verlieren durch den Abbruch der Verhandlungen ihre Gültigkeit für den jeweils anderen Markt. Die Schweiz wird seitdem von der EU wie ein Drittland behandelt, die enge Bindung und der barrierefreie Zugang zum EU-Binnenmarkt entfallen.
Sowohl deutsche als auch Schweizer Medizintechnikhersteller müssen ihre Produkte dadurch wieder doppelt zertifizieren lassen. Und sie müssen im jeweils anderen Markt einen Bevollmächtigten als Ansprechpartner bei möglichen Haftungsfragen bestimmen. Der Im- und Export von Medizintechnik zwischen der EU und der Schweiz , so die Befürchtungen in der Branche, dürfte sukzessive schwieriger werden. Versorgungsengpässe bei bestimmten Medizintechnikprodukten drohen.
„Wir erwarten eine ähnliche Entwicklung wie beim Brexit, indem die einzelnen Normen – für Medizinprodukte, Maschinen, Bauprodukte – langsam auseinanderdriften“, prognostiziert Thomas Conrady, Präsident
der IHK Hochrhein-Bodensee, der im Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertag (BWIHK) die Sprecherfunktion für die wirtschaftlichen Beziehungen mit der Schweiz innehat. Conrady befürchtet, dass es für kleine und mittelständische Unternehmen aus der EU zu aufwendig wird, für einen vergleichsweise kleinen Markt extra eine Schweizer Zulassung mit entsprechend hohen Kosten zu erwirken. Ein Hersteller für orthopädische Einlegesohlen aus Baden-Württemberg etwa würde zukünftig nämlich auch in der Schweiz eine Registrierung benötigen. Fortsetzen dürfte sich diese Entwicklung nach Einschätzung Conradys auch in anderen Bereichen wie dem Maschinenbau.
Während die meisten Schweizer Medizintechnikhersteller mit einem
Scheitern des Rahmenabkommens gerechnet hatten und entsprechend vorbereitet sind, trifft die Situation viele deutsche Branchenvertreter – vor allem die kleinen und mittelständischen – unvermittelt. „Für viele Unternehmen heißt das, dass sie in einer ohnehin angespannten Situation eine Extrameile gehen müssen“, sagt Julia Steckeler, Geschäftsführerin von Medicalmountains, der Interessenvertretung der Medizintechnikfirmen aus Tuttlingen.
Verschärft wird die Situation durch einen dramatischen Engpass bei den Zertifizierungsdienstleistern, den sogenannten Benannten Stellen. Das sind Unternehmen wie der TÜV Süd oder die Dekra, die die für die Medizintechnikhersteller notwendigen Zertifikate ausstellen. Ohne diese Zertifikate dürfen Produkte weder in der EU noch in der Schweiz in Verkehr gebracht werden.
Mit dem gescheiterten Rahmenabkommen erkennt die EU Bescheinigungen von Benannten Stellen wie der Schweizerischen Vereinigung für Qualitäts- und Managementsysteme aber nicht mehr an. Und die aktuell rund 20 in der EU zugelassenen Benannten Stellen sind mit der Umsetzung der neuen EU-Medizinprodukteverordnung vollends ausgelastet. Die sieht vor, dass in der Europäischen Union nur noch besonders zertifizierte Medizinprodukte auf den Markt gebracht werden dürfen.
Diese Dienstleister werden nun zusätzlich überrannt, da sich die Medizintechnikhersteller um neue Zertifikate bemühen müssen, wollen sie in der EU oder in der Schweiz ihre Produkte weiter verkaufen. „Es ist zu befürchten, dass im damit nochmals verschärften Rennen um ein Prüfzeitfenster bei den Benannten Stellen die kleinen und mittelständischen Unternehmen gegenüber den Großkunden der Benannten Stellen das Nachsehen haben werden. Für die Unternehmen im Südwesten ist das ein Wirtschafts- und Innovationshemmnis mit Auswirkungen auch auf die Versorgung“, sagt Baden-Württembergs Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) der „Schwäbischen Zeitung“.
Besonders prekär ist laut Hoffmeister-Kraut die Lage bei In-vitroDiagnostika, beispielsweise bei Herstellern von Corona-Tests. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es für diese Produkte nur vier zugelassene Zertifizierer, die noch dazu bis Mai 2022 rund 34 000 auf dem Markt befindliche In-vitro-Diagnostika neu zertifizieren müssen. Im Vorfeld des Treffens der EU-Gesundheitsminister an diesem Dienstag hat sich die Wirtschaftsministerin deshalb in Briefen an die zuständigen Kommissare in Brüssel und an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) gewandt, und eine Verschiebung der EU-Verordnung für In-vitro-Diagnostika um ein Jahr auf Mai 2023 angemahnt.