Ohne Joker in die letzte Mission
Löw und seine Elf versprühen Zuversicht und haben aus der Vergangenheit gelernt
MÜNCHEN - Das letzte Turnierspiel der Nationalelf von Joachim Löw? Das 0:2 gegen Südkorea. Weit weg war's, in Kasan, der Republik Tatarstan in Russland. Auch gedanklich ist das blamable WM-Aus von 2018 im letzten Winkel des Hinterstübchens. Präsenter ist da das letzte EM-Spiel für den Bundestrainer, das 0:2 im Halbfinale 2016 gegen Gastgeber Frankreich in Marseille.
Im Grunde das beste Turnierspiel der deutschen Auswahl und dennoch scheiterte man nach den Toren von Antoine Griezmann – vor allem an sich selbst. Dass Löw im Halbfinale neben Toni Kroos und Bastian Schweinsteiger (erste Startelf-Nominierung der EM) im Mittelfeld auf den defensiven – und damals mit erst sechs Länderspielen noch relativ unerfahrenen – Emre Can setzte, wurde ihm angekreidet. Auch in der Offensive baute Löw überraschend um. Er verzichtete auf Mittelstürmer Mario Gomez, brachte aber nicht wie erwartet Mario Götze. Im veränderten 4-3-2-1-System agierten Mesut Özil und Julian Draxler hinter der Spitze Thomas Müller. Nach dem Aus wurde vor allem Kritik laut, weil Löw lange an seinem Kapitän, dem vor dem Turnier lange verletz ten Schweinsteiger, festgehalten habe.
Eine Parallele zur EM 2012: Damals verzockte sich Löw beim Halbfinale gegen Italien mit einer für alle – inklusive der eigenen Mannschaft – überraschenden Idee: Der Bundestrainer beauftragte Toni Kroos, erstmals im Turnier in der Startelf, als Bewacher von Azzurri-Regisseur Andrea Pirlo. Was völlig misslang. „Mit ihm wollten wir die Zentrale stärken“, begründete Löw. Doch Spielmacher Kroos war gegen den Spielmacher überfordert, konnte kaum Bälle gewinnen, die Pässe des Maestros nicht verhindern – 1:2.
Und nun? Zieht Löw wieder einen Joker, eine ganz überraschende Karte? Sieht nicht so aus. Keine Experimente, Nummer sicher. Auf seiner nach dem angekündigten Rückzug begonnenen Abschiedstournee will der 61-Jährige mit Energie, aber auch Ruhe und Gelassenheit vorangehen. Seine Stars und er würden am Dienstag (21 Uhr/ZDF und MagentaTV) notfalls aber auch „durch die Hölle“gehen, versicherte der scheidende Bundestrainer vor seiner letzten Mission. 25 Jahre nach dem bislang letzten EM-Triumph in Wembley will sich Löw am 11. Juli in Englands Fußball-Kathedrale mit dem silbernen Pokal durchs große Tor verabschieden. Er will dafür bei seinem achten und letzten Turnier „alles raushauen“. „Alle wissen: Wir müssen sofort und zu jeder Zeit bereit sein“, betonte Löw und versprach der Fußball-Republik: „Wir sind uns der Bedeutung bewusst, dass wir für unsere Nation alles abrufen werden.“
Alles bereit also für sein letztes Hurra? Für Wehmut sei aktuell „kein Platz“, betonte er, die Aufgabe gehe er „mit derselben Motivation wie immer an“. Das sehen seine Spieler anders – im positiven Sinne.
„Alle wissen: Wir müssen sofort und zu jeder Zeit bereit sein.“
„Er hat auf jeden Fall wieder eine Schippe draufgelegt, an Intensität, Wille, Motivation“, sagte Rückkehrer Mats Hummels, der glaubt: „Er will dieses große, wunderbare Kapitel erfolgreich beenden.“Und die Spieler wollen ihrem Chef einen großartigen Abschied bereiten. „Er will unbedingt. Man hat gemerkt, dass er sehr motiviert, ehrgeizig und enthusiastisch ist“, sagte Kapitän Manuel Neuer über Löw, der 2006 das Amt von Bundestrainer Jürgen Klinsmann übernahm. DFB-Direktor Oliver Bierhoff, seit damals an seiner Seite, betonte mit Nachdruck: „Er ist alles andere als eine Lame Duck.“
Der Auftakt gegen Frankreich wird zu seiner letzten großen Herausforderung als Bundestrainer. Weil man sich eine Niederlage kaum
Joachim Löw erlauben kann. Denn dann käme bereits „ein unglaublicher Druck“, so Löw, „das nächste Spiel musst du dann gewinnen.“Gegen Europameister Portugal und WeltklasseStürmer Cristiano Ronaldo. Leicht ist was anderes.
Was von Löw nach dieser EM bleiben soll? Darüber hat er sich bereits Gedanken gemacht. „Wenn ich zurückdenke an die Anfänge bei der Nationalmannschaft, war die fußballerische Entwicklung das Allerwichtigste für mich – dafür habe ich immer gekämpft“, erklärte Löw kürzlich und führte aus: „Ich habe gesagt: Es reicht nicht, in ein Turnier zu gehen und zu sagen: Wir gewinnen irgendwie. Einsatz, Kampf, individuelle Klasse – das ist nicht genug. Das war unser Projekt. In dieser Hinsicht haben wir in den vergangenen Jahren eine große Entwicklung gemacht.“Dennoch – und das wird auch diesmal der Fall sein: der letzte Eindruck, das letzte Ergebnis zählt.