Reise ins Ungewisse
WIEN - Es ist der wöchentliche, ganz normale Ausnahmezustand in der österreichischen Hauptstadt. Die Menschen in Wien haben sich in gewisser Weise schon daran gewöhnt. Auch an diesem Samstag strömten Impfgegner und CoronaVerharmloser ins Zentrum, über die Ringstraße und legten die Innenstadt mehr oder weniger lahm. Wer dann die U-Bahn, den Bus oder die Straßenbahn benutzen will, muss sich gut überlegen, welcher Weg der beste ist, um den Demonstrierenden, die aus allen Bundesländern anreisen, auszuweichen. Schließlich schießen im Land die Infektionszahlen in der OmikronWelle durch die Decke.
Die Situation auf der Straße hat sich schon in der Vorweihnachtszeit immer mehr aufgeheizt – und die Wiener Polizei muss sich zunehmend Kritik gefallen lassen. Zu lasch sei ihr Vorgehen gegen die Demonstrationen, heißt es. Die FFP2-Maskenpflicht im Freien, die seit Dienstag in Österreich gilt, wenn nicht genügend Abstand eingehalten werden kann, gelte bei den Demonstrationen offenbar nicht, lautet der Vorwurf.
An die 40 000 Protestierende waren es vor zwei Wochen, vergangenen Samstag einige Tausend, am 31. Januar soll es erneut eine Großdemo geben. An der Spitze des Zuges marschierten vor 14 Tagen die neofaschistischen „Identitären“, Neonazis und gewaltbereite Fußball-Hooligans. Böller, Pyrotechnik und Bierdosen wurden auf die Polizei geworfen, diese antwortete mit Pfefferspray. Kurzzeitig kesselten die Beamten die Rechtsextremen ein – um ihnen kurz darauf die Straße erneut freizugeben. Die Gewaltbereitschaft ist hoch. Es reicht ein Tropfen, um das Fass an Aggressionen zum Überlaufen zu bringen.
Zusammen mit der rechtsextremen Szene und den radikalen Impfgegnern, die sich über den Messengerdienst Telegram zu Tausenden organisieren, mobilisieren die FPÖ und ihr Parteichef Herbert Kickl ebenso wie die neue „Querdenker“Partei „Menschen Freiheit Grundrechte“für die Demos. Auch aus dem nahen Ausland kommen Impfgegner
nach Wien, etwa aus Sachsen oder aus Tschechien.
Die allgemeine Impfpflicht für Erwachsene, die Österreich als erstes Land der Europäischen Union schon ab 1. Februar einführen will, hat Wien zu einem Zentrum der Corona-VerharmloserSzene gemacht.
Nur wenige Meter vom Ort der Aufmärsche entfernt soll es am Donnerstag so weit sein. Im Ausweichquartier des Parlaments steht die Abstimmung über den von den Regierungsparteien ÖVP und Grünen vorgelegten Gesetzentwurf für die Impfpflicht auf der Tagesordnung.
Dass das Vorhaben durchgezogen wird, daran lassen der neue ÖVP-Kanzler Karl Nehammer und der grüne Juniorpartner keinen Zweifel. Seit Sonntag liegt der Entwurf für das Gesetz vor. Wie die vielen Baustellen und offenen Fragen,
„Sollte es erst zwei Wochen später möglich sein, dann werden wir das adaptieren.“
Österreichs Grünen-Fraktionschefin Sigrid Mauerer zur Impfpflicht
die es bei der Umsetzung der Impfpflicht in den kommenden Monaten geben wird, zu lösen sind, darüber gehen die Meinungen allerdings weit auseinander. Und das nicht nur zwischen den Koalitionsparteien und der Opposition.
Denn noch ist nicht einmal klar, ob die Impfpflicht Anfang Februar überhaupt starten kann. Abgewickelt werden soll die Kontrolle laut den Regierungsplänen über Elga, die elektronische Gesundheitsakte. Der Geschäftsführer der Elga GmbH, Franz Leisch, sorgte Anfang Januar für Aufregung: Man sei in die Ausarbeitung des Gesetzestextes nicht eingebunden worden – und ein Start mit 1. Februar sei technisch nicht möglich.
In einer schriftlichen Stellungnahme zur parlamentarischen Begutachtung des Impfpflicht-Gesetzes – diese steht in Österreich sowohl Institutionen als auch Privatpersonen zu – ist zu lesen: „Die Elga GmbH und deren Umsetzungspartner
werden für die technische Umsetzung der Impfpflicht über das nationale Impfregister mindestens bis 1. April 2022 benötigen.“Es gehe dabei um die Erfassung von Ausnahmen der Impfpflicht und auch um Personen, die zwar in Österreich leben, aber keine Sozialversicherungsnummer besitzen.
Die Regierung antwortete: Das Startdatum 1. Februar bleibt, allerdings soll eine Art „Übergangsphase“folgen. Als erster Stichtag einer automatisierten, digitalen Kontrolle der Impfpflicht über Elga ist der 15. März vorgesehen – in der Realität wird es wohl eher der 1. April werden. Das gestand auch die Fraktionschefin der Grünen im Parlament, Sigrid Maurer, zu: „Sollte es erst zwei Wochen später möglich sein, dann werden wir das adaptieren“, sagte sie im ORFRadio. Bis dahin könne es ein „alternatives Kontrollregime“geben. Und das soll wohl die Polizei übernehmen – mittels Stichproben. Der Nachweis einer Corona-Schutzimpfung wäre dann ein „Kontrolldelikt“, etwa wie beim Führerschein.
Eine weitere Baustelle gibt es dort, wo jene, die sich der Impfpflicht widersetzen, bestraft werden sollen. Die Landesverwaltungsgerichte befürchten eine Überforderung mit der Masse an Strafverfügungen. Aktuell stehen an diesen Gerichten 320 Richterinnen und Richter im Dienst. Man brauche allerdings doppelt so viele, um die Hunderttausenden Einsprüche gegen Impfpflicht-Strafen, die zu erwarten seien, bewältigen zu können, heißt es vonseiten der Landesverwaltungsrichter. Schließlich rechnet die Regierung selbst mit bis zu 1,4 Millionen Strafverfahren wegen Verstößen gegen die Impfpflicht noch im laufenden Jahr. Die Koalition ist um Beruhigung bemüht – und verspricht zusätzliche Mittel.
Offen ist bisher, wie die Impfpflicht am Arbeitsplatz gehandhabt werden soll. Dort gilt nach wie vor die 3G-Regel. „Aus unserer Sicht braucht es hier keine zusätzlichen Änderungen“, sagt dazu die grüne Fraktionschefin. Am Zug sei hier das Arbeitsministerium. So könnte für den Arbeitsplatz weiter 3G und damit de facto eine Ausnahme von der Impfpflicht gelten. Die Frage Impfpflicht und Arbeitsplatz ist wiederum für die Gewerkschaften besonders sensibel. Im Gewerkschaftsbund ÖGB – ein wichtiger Flügel auch innerhalb der Sozialdemokraten – ist man alles andere als begeistert von der Impfpflicht. Die Gewerkschafter wollen im Gegensatz zur Regierung im Gesetzestext festgehalten wissen, dass es bei Verstößen gegen die Impfpflicht keinerlei Konsequenzen für die Arbeitnehmer gibt.
Und auch die Arbeiterkammer, die SPÖ-nahe gesetzliche Vertretung der Arbeitnehmer, spricht sich offen gegen die Impfpflicht aus. Einige dem Gewerkschaftsflügel zuzurechnende SPÖ-Abgeordnete tragen den Pro-Impfpflicht-Kurs von Parteichefin Pamela RendiWagner, selbst Ärztin und Immunologin, dem Vernehmen nach „nur mit Bauchweh“mit.
ÖVP und Grüne setzen auf die Zustimmung der Sozialdemokraten. Und nicht nur aufgrund des gewerkschaftlichen Widerwillens hat Rendi-Wagner alle Mühe, ihre Parlamentsfraktion auf Linie zu bekommen. Der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil, ohnehin in offenem Konflikt mit Rendi-Wagner, will PCRTests kostenpflichtig machen, also eine Art „indirekte Impfpflicht“. Überdenken wollen die Impfpflicht auch die Parteichefs von Salzburg und Tirol. Mehr als Rumoren im Hintergrund – oder wie im Falle
Doskozils Provokation gegenüber der Parteichefin – dürfte aber die interne Debatte der Sozialdemokraten nicht bedeuten.
Dass die SPÖ am Donnerstag geschlossen mit den Regierungsparteien mitzieht, ist für ÖVP und Grüne von großer Bedeutung. Auf die Unterstützung der größten Oppositionspartei – und damit auf das Signal der großen Mehrheit im Parlament – kann die Koalition beim Vorhaben Impfpflicht nicht verzichten. Deshalb dürfte es den Sozialdemokraten gelingen, einige von ihnen geforderte Punkte ins Impfpflicht-Gesetz hineinzuverhandeln, etwa ein „Belohnungssystem“für Impfwillige oder die regelmäßige Evaluierung der Impfpflicht. Letztere kann auch als Zugeständnis an die internen Impfpflicht-Skeptiker gewertet werden.
Widerspruch gegen das Vorhaben der Regierung gibt es aber auch in der Kanzlerpartei. Die Spitze der ÖVP-geführten Wirtschaftskammer will die Impfpflicht lieber „verschieben“, man stellt sich weniger harte Mittel zur Bekämpfung der Pandemie vor. Zur Erinnerung: Der Vorstoß für eine Impfpflicht kam – für viele überraschend – nicht von den Grünen, sondern von der ÖVP selbst. Keine Diskussion gibt es erwartungsgemäß bei den Rechtspopulisten: Die FPÖ von Herbert Kickl lehnt die Impfpflicht kategorisch ab.
Dass einzelne Parlamentarier gegen die Linie ihrer jeweiligen
Fraktion stimmen werden, ist aber mehr als unwahrscheinlich. Rein rechtlich gibt es im Parlament keinen Fraktionszwang, de facto aber stimmen die Abgeordneten der Parteien stets geschlossen ab. Einzig die Neos könnten für eine Überraschung gut sein. Den liberalen Abgeordneten steht ihre Abstimmung auch seitens der Fraktion frei, die Parteichefin Beate Meinl-Reisinger hat sich aber prinzipiell für die Impfpflicht ausgesprochen.
Gegenüber Deutschland, wo gleich mehrere Impfpflicht-Entwürfe in den Bundestag – ohne Fraktionszwang – zur Abstimmung kommen sollen, ist Österreichs Regierung also klar im Vorteil. Die Impfpflicht kommt, daran ändert auch die Rekordzahl von 108 325 Stellungnahmen zum Gesetzentwurf nichts. Der Großteil davon kam von Privatpersonen und fiel ablehnend aus – Impfgegner und „Querdenker“machten auch hier mobil. Doch sie bleiben in der Minderheit. Kanzler Nehammer und Vizekanzler Werner Kogler wissen eine Mehrheit der Österreicher hinter sich. Rund 59 Prozent befürworten laut einer Studie des Gallup-Instituts vom vergangenen Dezember die Impfpflicht. Auf der Straße und auch im Internet, auf den diversen Plattformen der Corona-Leugner, rüstet sich jedoch der Verfassungsschutz für mögliche Eskalationen in den kommenden Monaten. Vor allem die Teilnahme von Polizistinnen und Polizisten sowie Angehörigen des Bundesheeres bereitet Omar Haijawi-Pirchner, dem Chef der Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst, große Sorgen. Zuletzt sorgten Beamte mit einem „offenen Brief“, gehalten in der szenetypischen Sprache, für Aufsehen.
Ein im Dezember aufgetauchtes Internet-Video von der privaten Feier eines bekannten CoronaLeugners und Rechtsextremen verdeutlicht, wie gefährlich die Lage tatsächlich ist: Mit „ein wenig um den Ring spazieren“werde es 2022 nicht getan sein, kündigt das Geburtstagskind in feuchtfröhlicher Runde an. Mit dabei war auch der bekannte Neonazi Gottfried Küssel. Man wisse noch nicht genau, was man machen werde, sagt dieser in die Kamera. „Aber es wird gut werden.“