Sozialträger sind bestürzt über Sparpläne des Kreises
Das Frauenhaus müsste Plätze streichen, Beratungsstellen Personal kürzen – Landrat weist auf schwierige Finanzlage hin
LANDKREIS TUTTLINGEN - Rund 17 000 Euro: Das ist der Betrag, der dem Frauenhaus in Tuttlingen in diesem Jahr fehlen würde, falls der Sparvorschlag der Haushaltskommission vom Kreistag gebilligt würde. Anders ausgedrückt: Das Frauenhaus müsste etwa 20 Prozent an Personal zurückfahren und wahrscheinlich zwei Plätze im Frauenhaus streichen. „Entsetzt“, „bestürzt“und „mit Unverständnis“reagieren die Sozialverbände auf die vorgeschlagenen Streichungen im Sozialhaushalt des Landkreises. Rund 25 Einrichtungen und Anlaufstellen sind betroffen.
Pauschal zehn Prozent weniger an Unterstützung – das sehen die Pläne für die Freie Wohlfahrtspflege vor. Zum Verständnis: Die Freie Wohlfahrtspflege übernimmt meist Aufgaben, die der Landkreis ansonsten selbst vorhalten müsste. Da gehören auch Erziehungsberatung und Tagespflege dazu. Und die AWO Wohnsitzlosenhilfe. „Das betrifft die Ärmsten der Armen“, fasst Doris Mehren-Greuter von der AWO zusammen. Für die Wohnsitzlosenhilfe würde der Vorschlag der Haushaltskommission eine Minderung des Zuschusses von 16 090 Euro auf 145 000 Euro bedeuten. Doch: „Der jährliche Betrag, den die Einrichtung vom Landkreis erhält, deckt die Kosten nicht“, so die AWO, die Lücke sei in der Vergangenheit durch Spenden kompensiert worden. Die Folgen einer Kürzung würden schnell konkret sichtbar sein, da das Hilfeangebot mit dem verbleibenden Personal nicht im gewohnten Umfang bereitgestellt werden könnte, betont die AWO in einer Stellungnahme. Weniger Öffnungstage, reduzierte Öffnungszeiten, längere Wartezeiten wären die Folgen. Dabei sei zu erwarten, dass die Anzahl der Klienten mit der Zeit eher weiter zunehmen wird, ebenso die Anzahl der Menschen, die sich völlig abgehängt fühlen.
Bei der Suchtberatungsstelle wären es 38 500 Euro weniger, falls der Beschluss so fallen sollte. „Wir haben aufgrund der drohenden Kürzungen eine für Anfang Januar 2022 ausgeschriebene 75-Prozent-Stelle vorerst nicht besetzt“, erklärt Marcus Abel, Leiter der Suchtberatung, auf Nachfrage. Dies bedeute zwangsläufig, dass die Mitarbeiter nicht in dem Umfang für Betroffene da sein könnten, „wie es angebracht wäre“, so Abel. Längere Wartezeiten drohen.
Landrat Stefan Bär und Finanzdezernent Alexander Hersam sind in einer Pressekonferenz am Dienstag auf die Vorschläge der Haushaltskommission eingegangen. „Über diese Dinge werden wir jetzt reden müssen“, sagte der Landrat. Ihm sei klar, dass es ein schwieriges, emotionales Thema sei und teilweise weh tun werde, „auch uns“. Doch noch sei nichts entschieden, das könne sich in den Beratungen alles nochmal ändern. Er geht davon aus, dass sehr kontrovers diskutiert wird.
Nicht alle Vorschläge trägt die Verwaltung auch mit, so heißt es bei der Streichung einer 0,5 Stelle in der Schuldnerberatung als Anmerkung: „Reduzierung nicht möglich – bereits heute große Wartezeiten. Corona hat die Situation verschärft.“
Bär ging auf die schwierige Haushaltssituation ein (dazu Kasten). Der
Haushaltsplanentwurf weist eine Deckungslücke von 2,7 Millionen Euro auf. Größter Posten im Haushalt ist der Sozialetat mit einem Umfang von rund 73, 5 Millionen Euro – das sind 4,5 Millionen Euro mehr als im vergangenen Jahr.
Bereits 2021 habe es ein Defizit gegeben, auch damals sei es nicht möglich gewesen, den laufenden Betrieb auszugleichen. Als sich dieselben Vorzeichen für 2022 gezeigt haben, habe der Kreistag frühzeitig darum gebeten, dass sich Vertreter der Fraktionen im Rahmen einer Haushaltskommission mit den Eckdaten des Haushalts befassen. Das Einsparpotenzial, das die Kommission im
Sozialetat sieht, beläuft sich auf insgesamt 730 000 Euro. Weitere 800 000 Euro könnten gespart werden, indem Maßnahmen für den Gebäudeerhalt zurückgestellt werden. Bär: „Diese Kosten kommen dann aber in ein paar Jahren wieder.“
Mathias Schwarz, Finanzreferent des Vereins „Phönix – gemeinsam gegen sexuellen Missbrauch“, weist darauf hin, dass 3370 Euro weniger für den Verein „an unserer Arbeit kratzt“. Bernd Mager, Sozialdezernent des Kreises Tuttlingen, hatte die betroffenen Einrichtungen im Dezember über die Sparvorschläge per Mail unterrichtet. „Niemand käme in Zeiten einer Pandemie auf die Idee, an notwendigen Schutzmaßnahmen zu sparen“, heißt es im Antwortschreiben von Schwarz. Auch wenn es angesichts eines strukturellen Defizits Verständnis gebe, dass jeder sein Scherflein beitragen sollte: „Gerade auch durch die Pandemie sind unsere Fallzahlen so hoch wie nie“, so Schwarz. Die 1,2 Vollzeitstellen in der Beratung hätten viele Überstunden angehäuft. Ein Minus an der Unterstützung durch den Kreis würde Einsparungen beim Personal mit sich bringen – und damit Wartezeiten für Hilfesuchende.
Die Offene Grüne Liste (OGL) und die SPD im Tuttlinger Kreistag wenden sich in einem gemeinsamen Antrag gegen die möglichen Kürzungen. Wie die Fraktionsvorsitzenden Hans-Martin Schwarz (OGL) und Marcus Kiekbusch (SPD) erklären, sei die Arbeit der Freien Träger essenziell für den sozialen Standard im Landkreis. „Wir sollten Respekt vor der Arbeit dieser Institutionen zeigen und ihnen Verlässlichkeit entgegenbringen und eine sichere Finanzierung gewährleisten“, fordern sie.
Ein Abbau der Leistungen käme einem Sozialabbau gleich. Die beiden Fraktionsvorsitzenden befürchten, „dass die ,Reparatur’ von unterlassenen Leistungen den Kreis teurer zu stehen kommt als eine nachhaltige, keinesfalls üppige oder überzogene finanzielle Ausstattung der freien Träger“. Die OGL und die SPD haben im Kreistag 13 von 47 Sitzen. Um die drohenden Kürzungen abzuwenden, brauchen sie Unterstützung aus anderen Fraktionen.
Das Frauenhaus Tuttlingen war 2021 zu 96 Prozent ausgelastet, erklärt Leiterin Juliane Schmieder. Neben der zehnprozentigen Kürzung der jährlichen Unterstützung (7150 Euro von bislang 71 500 Euro), schlägt die Kommission vor, auch die Einnahmenbeteiligung des Frauenhauses für die Unterbringung von Frauen aus anderen Landkreisen von derzeit 50 auf 40 Prozent zu reduzieren. Das würde zu Einsparungen von weiteren 10 000 Euro führen.
Schmieder versteht die Welt nicht mehr: „Für uns ist das überhaupt nicht zu begreifen in der jetzigen Zeit.“Die Mitarbeiterinnen im Frauenhaus hätten „mehr gearbeitet als je zuvor“. So sei eine Quarantänewohnung eingerichtet worden, um den Betrieb aufrechterhalten zu können.
Rund 80 000 Euro kamen durch die Aufnahme von Frauen samt Kindern aus anderen Landkreisen im Tuttlinger Frauenhaus zustande. Wenn man die Unterstützung des Kreises von 71 500 Euro gegenrechnet. „dann verdient der Landkreis ja fast noch an uns“. Mit rund 17 000 Euro weniger müssten zwei der zwölf Plätze im Frauenhaus gestrichen werden. Dabei fehlten bundesund landesweit bereits Plätze.
Die vorgeschlagenen Kürzungen betreffen auch andere sozialen Bereiche, so die Zuschüsse für die Jugendarbeit. Der Vorschlag lautet: Reduzierung von 15 000 auf 10 000 Euro pro Vollzeitstelle für Schulsozialarbeiter. Kostenersparnis: rund 131 000 Euro. Diese Kürzungen könnten ein Stück weit aufgefangen werden, da das Land angekündigt hat, in die Bezuschussung der Jugendarbeit einzusteigen, mit rund 3500 Euro für jeden Träger. Zudem wird der Landeszuschuss für die Schulsozialarbeiter erhöht (von 16 700 auf 17 800 Euro pro Stelle).
Bleibt ein dritter Themenblock: mögliche Kürzungen bei Freiwilligkeitsleistungen des Kreises, wie Bär es nannte, darunter zum Beispiel Zuschüsse für den VdK und die Lebenshilfe, aber auch das Nichtbesetzen von Stellen in der Kreisverwaltung (im Sekretariat und die des Sozialplaners). Die Beteiligung des Kreises am Netzwerk International könnte gekündigt und der Mitarbeiterin ei ne andere Stelle in der Verwaltung angeboten werden. Eingespart wären dadurch rund 50 000 Euro.
wurde in der Sitzung des Kreistags am 16. Dezember 2021 eingebracht, nun beginnen die Vorberatungen in den Kreistagsausschüssen, so im Sozial– und Gesundheitsausschuss am 19. Januar. Final entscheidet der Kreistag am 17. Februar über den Haushalt.