Sexismus-Skandal im Londoner Parlament
Belästigungsvorwürfe gegen mehr als 50 Abgeordnete, darunter Kabinettsmitglieder, beschäftigen die Briten
LONDON - Hat die konservative Regierungspartei von Premierminister Boris Johnson ein Frauenproblem? Immer wieder sahen sich in den vergangenen Wochen und Monaten Tory-Abgeordnete mit Vorwürfen frauenfeindlichen Benehmens oder sogar sexueller Belästigung konfrontiert. Zwei Volksvertreter wurden bereits rechtskräftig verurteilt, gegen mehrere andere laufen polizeiliche Ermittlungsverfahren. Am Donnerstag sorgte ein neuer Vorwurf für Schlagzeilen: Den Beobachtungen zweier Fraktionskolleginnen zufolge hat sich ein Tory-Abgeordneter mehrfach im Plenarsaal des Unterhauses an Pornofilmen ergötzt. „Komplett unakzeptabel“, findet dies Fraktionschef Chris HeatonHarris, eine Untersuchung sei bereits im Gang.
„Pornos im Parlament“– die wenig appetitliche Schlagzeile prangte am Donnerstag auf vielen Titelseiten der Londoner Zeitungen. Der Vorwurf wurde bei einem Treffen weiblicher Tory-Abgeordneter laut, die sich gegen eine Vielzahl unangemessener Verhaltungsweisen gemeinsam zur Wehr setzen wollen. Nacheinander schilderten zwei Frauen eine Szene, bei der sie einen Fraktionskollegen – der Name blieb ungenannt - beim Betrachten pornografischen Materials erwischt hatten. Als Heaton-Harris die beiden Betroffenen darum bat, ihm vertraulich den Namen des Delinquenten mitzuteilten, stellte sich heraus: Es handelte sich um dieselbe Person.
Mag das respekt- und geschmacklose Verhalten des Mannes auch besonders krass sein – als Einzelfall kann man ihn schwerlich abtun in einem Hohen Haus, in dem Frauen seit vielen Jahren über ihre strukturelle Benachteiligung klagen. Bis heute bietet das neugotische Gebäude an der Themse viel zu wenig Toiletten für Frauen, die Sitzungszeiten wurden erst nach Protesten von den Nachtstunden auf familienfreundlichere Zeiten tagsüber verlegt.
Geblieben zu sein scheint bei vielen Männern die Vorstellung, anzügliche Bemerkungen oder gar Übergriffe auf jüngere Frauen gehörten zu ihren parlamentarischen Privilegien. Mehr als 70 Beschwerden gegen 56 von insgesamt 650 Abgeordneten sind derzeit bei der unabhängigen Beschwerdestelle ICGS anhängig.
Der „Sunday Times“zufolge gehören drei Kabinettsmitglieder ebenso zu den Beschuldigten wie zwei Angehörige des Schattenkabinetts von Labour-Chef Keir Starmer. In mindestens einem Fall wurde auch die Kriminalpolizei eingeschaltet: Dabei soll ein Abgeordneter einer von ihm abhängigen Mitarbeiterin Geld für Sex angeboten haben.
Immer wieder haben Kripo-Ermittlungen bereits zu Gerichtsverfahren gegen konservative Abgeordnete geführt. Charles Elphicke wurde wegen Übergriffen auf zwei Mitarbeiterinnen zu einer Haftstrafe verurteilt; ähnlich dürfte es Imrad Ahmad Khan ergehen, wenn demnächst das Strafmaß wegen der sexuellen Belästigung eines minderjährigen Jugendlichen festgesetzt wird. Wegen vergleichbarer Vorwürfe bleibt David Warburton derzeit von seiner Fraktion suspendiert.
„Alle Schrecken der Welt“drohte, Shakespeare zitierend, Johnson einem anonymen Fraktionskollegen an, der sich vergangene Woche an die „Mail on Sunday“(MoS) gewandt hatte. Der resultierende Artikel des Tory-treuen Boulevardblattes bezichtigte die Labour-Vizechefin Angela Rayner, sie spiele mit ihren weiblichen Reizen, um den direkt gegenübersitzenden Premierminister von der Arbeit abzulenken. Das Vorgehen der 42-Jährigen gleiche einer berühmten Filmszene aus dem erotischen Thriller „Basic Instinct“, in der die Hauptdarstellerin Sharon Stone den Vernehmungsbeamten, gespielt von Michael Douglas, durch aufreizendes Verhalten provoziert.
„Ekelhaft“fand die solcherart Beschuldigte den Vorwurf, empört zeigte sich nicht nur Johnson, sondern auch der Parlamentspräsident Lindsay Hoyle: Der Speaker bestellte den MoS-Chefredakteur zum Rapport, was dieser mit Verweis auf die Pressefreiheit ablehnte.
Wo aber liegen die Ursachen für das frauenfeindliche Gebaren im Parlament? Verteidigungsminister Ben Wallace machte „die allgemeine Stimmung“sowie überhöhten Alkoholkonsum verantwortlich: Hunderte von Menschen arbeiteten viele Stunden auf engem Raum und unter hohem Druck, das alles ergebe „eine giftige Mixtur“. Zur Abhilfe rät der Ex-Offizier den Kollegen, den zahlreichen subventionierten Pubs fernzubleiben: „Gehen Sie lieber nach Hause.“