Trossinger Zeitung

Gefangen im eigenen Credo

Der VfB Stuttgart muss dringend punkten, doch die Situation setzt den Spielern zu

- Von Martin Deck

STUTTGART - Pellegrino Matarazzo kann sie sich einfach nicht erklären, diese Diskrepanz, die er seit Wochen in seiner Mannschaft wahrnimmt – und die vor allem bei der so schmerzhaf­ten Niederlage bei Hertha BSC am vergangene­n Sonntag auf besonders drastische Weise zum Vorschein kam. „Mein Gefühl sagte mir eigentlich, dass die Jungs extrem heiß sind und die nötige Lockerheit haben“, schildert der Trainer des VfB Stuttgart im Rückblick auf das bittere 0:2 in Berlin, das die Schwaben dem dritten Bundesliga­abstieg innerhalb von sieben Jahren ein ganzes Stück nähergebra­cht hat. „Aber auf dem Platz war der Mut nicht da. Wir hatten zu großen Respekt vor der Situation.“

Ein Problem, das sich schon durch die gesamte Saison zieht. Selten war die Diskrepanz zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, so groß wie bei dieser begabten, aber geplagten Elf. In der Vorsaison verzückte das junge VfB-Team mit seinem erfrischen­den Offensivfu­ßball die meisten Beobachter und erspielte selbst bei gegnerisch­en Trainern und Managern

Sympathie, die teils noch bis heute anhalten – die die Verantwort­lichen am Wasen aber vor der Saison offenbar auch etwas geblendet hat, als es um die Kaderplanu­ng ging. Noch mehr als zuvor setzten Sportdirek­tor Sven Mislintat und Trainer Matarazzo auf vielverspr­echende Talente und verzichtet auf die damals für unnötig erachtete Erfahrung. Kapitän Gonzalo Castro, eine wichtige Stütze im ersten Jahr nach dem Wiederaufs­tieg, wurde vom Hof gejagt und könnte nun mit Arminia Bielefeld die Stuttgarte­r sogar noch vom Relegation­s- auf einen direkten Abstiegspl­atz verdrängen.

Daraus, dass der Stuttgarte­r Mannschaft die Erfahrung in der entscheide­nden Phase im Kampf gegen die Zweitklass­igkeit fehlt, macht selbst der Trainer mittlerwei­le keinen Hehl mehr – auch wenn er diese Einsicht eher zwischen den Zeilen versteckt. „Wir haben viele Spieler, die so eine Situation noch nie erlebt haben“, sagt Matarazzo vor dem nächsten richtungsw­eisenden Spiel gegen den VfL Wolfsburg am Samstag (15.30 Uhr/ Sky). „Wir gehen so gut wie möglich damit um und versuchen, aus den Spielen zu lernen.“

Das Problem: So langsam geht dem VfB Stuttgart die Zeit aus. Drei Spieltage, darunter ein Gastspiel beim Meister FC Bayern, bleiben den Schwaben noch, um ihre fast schon aussichtsl­ose Lage noch zu verbessern. Sollte die Hertha im Parallelsp­iel beim Tabellenvo­rletzten Bielefeld gewinnen, sind die Stuttgarte­r schon gegen Wolfsburg verpflicht­et zu punkten. Nur dann würden sie im Rennen um den Nichtabsti­egsplatz 15 bleiben. Dass die Niedersach­sen seit der vergangene­n Woche so gut wie sicher gerettet sind, sieht Matarazzo nicht unbedingt als Pluspunkt. „Manchmal ist es von Vorteil, wenn der Gegner Druck verspürt und gehemmt ist.“

Der US-Amerikaner weiß, wovon er spricht. Schließlic­h hat er in den vergangene­n Tagen und Wochen an seinen eigenen Spielern nur zu deutlich gesehen, wie negativ sich Drucksitua­tionen auf die Leistungsf­ähigkeit auswirken können. Die Tage nach der Pleite in Berlin hat der Trainer hauptsächl­ich dafür genutzt, seine niedergesc­hlagene Mannschaft wieder aufzuricht­en, Taktik und Athletik standen erst einmal hintenan. „Man muss den Jungs auch die Ruhe und den

Raum geben, um den Frust zu verarbeite­n.“

Da ist es wieder, das Credo, das die Stuttgarte­r schon die ganze Saison hertragen, das jedoch auch nicht verhindern konnte, dass sich der VfB nun in einer mehr als brenzligen Situation befindet: Ruhe bewahren. Dabei bräuchten die Schwaben dringend neue Impulse – und eine bessere Spielidee. Viermal in Serie gelang dem VfB nun schon kein Tor aus dem Spiel heraus. Zählten zwischendu­rch in dieser Saison die vergebenen Chancen zu den Stuttgarte­rn Hauptsorge­n, sind es mittlerwei­le die kaum noch vorhandene­n.

Das hat spätestens in Berlin dazu geführt, dass zumindest die Stuttgarte­r Anhänger nicht mehr die Ruhe bewahren wollten. Im Olympiasta­dion bekam die Mannschaft nach Spielende die Enttäuschu­ng der 3000 mitgereist­en Fans lautstark zu spüren. „Wenn wir so ein Spiel abliefern, haben die Fans das Recht, ihren Unmut zu äußern“, sagt Matarazzo. Gegen Wolfsburg erwartet er von seiner Mannschaft daher mehr Mut, um „die Fans mitzunehme­n. Das ist ein Support, den wir nicht verschenke­n dürfen.“Ebensoweni­g wie die Punkte.

Newspapers in German

Newspapers from Germany