Gefangen im eigenen Credo
Der VfB Stuttgart muss dringend punkten, doch die Situation setzt den Spielern zu
STUTTGART - Pellegrino Matarazzo kann sie sich einfach nicht erklären, diese Diskrepanz, die er seit Wochen in seiner Mannschaft wahrnimmt – und die vor allem bei der so schmerzhaften Niederlage bei Hertha BSC am vergangenen Sonntag auf besonders drastische Weise zum Vorschein kam. „Mein Gefühl sagte mir eigentlich, dass die Jungs extrem heiß sind und die nötige Lockerheit haben“, schildert der Trainer des VfB Stuttgart im Rückblick auf das bittere 0:2 in Berlin, das die Schwaben dem dritten Bundesligaabstieg innerhalb von sieben Jahren ein ganzes Stück nähergebracht hat. „Aber auf dem Platz war der Mut nicht da. Wir hatten zu großen Respekt vor der Situation.“
Ein Problem, das sich schon durch die gesamte Saison zieht. Selten war die Diskrepanz zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, so groß wie bei dieser begabten, aber geplagten Elf. In der Vorsaison verzückte das junge VfB-Team mit seinem erfrischenden Offensivfußball die meisten Beobachter und erspielte selbst bei gegnerischen Trainern und Managern
Sympathie, die teils noch bis heute anhalten – die die Verantwortlichen am Wasen aber vor der Saison offenbar auch etwas geblendet hat, als es um die Kaderplanung ging. Noch mehr als zuvor setzten Sportdirektor Sven Mislintat und Trainer Matarazzo auf vielversprechende Talente und verzichtet auf die damals für unnötig erachtete Erfahrung. Kapitän Gonzalo Castro, eine wichtige Stütze im ersten Jahr nach dem Wiederaufstieg, wurde vom Hof gejagt und könnte nun mit Arminia Bielefeld die Stuttgarter sogar noch vom Relegations- auf einen direkten Abstiegsplatz verdrängen.
Daraus, dass der Stuttgarter Mannschaft die Erfahrung in der entscheidenden Phase im Kampf gegen die Zweitklassigkeit fehlt, macht selbst der Trainer mittlerweile keinen Hehl mehr – auch wenn er diese Einsicht eher zwischen den Zeilen versteckt. „Wir haben viele Spieler, die so eine Situation noch nie erlebt haben“, sagt Matarazzo vor dem nächsten richtungsweisenden Spiel gegen den VfL Wolfsburg am Samstag (15.30 Uhr/ Sky). „Wir gehen so gut wie möglich damit um und versuchen, aus den Spielen zu lernen.“
Das Problem: So langsam geht dem VfB Stuttgart die Zeit aus. Drei Spieltage, darunter ein Gastspiel beim Meister FC Bayern, bleiben den Schwaben noch, um ihre fast schon aussichtslose Lage noch zu verbessern. Sollte die Hertha im Parallelspiel beim Tabellenvorletzten Bielefeld gewinnen, sind die Stuttgarter schon gegen Wolfsburg verpflichtet zu punkten. Nur dann würden sie im Rennen um den Nichtabstiegsplatz 15 bleiben. Dass die Niedersachsen seit der vergangenen Woche so gut wie sicher gerettet sind, sieht Matarazzo nicht unbedingt als Pluspunkt. „Manchmal ist es von Vorteil, wenn der Gegner Druck verspürt und gehemmt ist.“
Der US-Amerikaner weiß, wovon er spricht. Schließlich hat er in den vergangenen Tagen und Wochen an seinen eigenen Spielern nur zu deutlich gesehen, wie negativ sich Drucksituationen auf die Leistungsfähigkeit auswirken können. Die Tage nach der Pleite in Berlin hat der Trainer hauptsächlich dafür genutzt, seine niedergeschlagene Mannschaft wieder aufzurichten, Taktik und Athletik standen erst einmal hintenan. „Man muss den Jungs auch die Ruhe und den
Raum geben, um den Frust zu verarbeiten.“
Da ist es wieder, das Credo, das die Stuttgarter schon die ganze Saison hertragen, das jedoch auch nicht verhindern konnte, dass sich der VfB nun in einer mehr als brenzligen Situation befindet: Ruhe bewahren. Dabei bräuchten die Schwaben dringend neue Impulse – und eine bessere Spielidee. Viermal in Serie gelang dem VfB nun schon kein Tor aus dem Spiel heraus. Zählten zwischendurch in dieser Saison die vergebenen Chancen zu den Stuttgartern Hauptsorgen, sind es mittlerweile die kaum noch vorhandenen.
Das hat spätestens in Berlin dazu geführt, dass zumindest die Stuttgarter Anhänger nicht mehr die Ruhe bewahren wollten. Im Olympiastadion bekam die Mannschaft nach Spielende die Enttäuschung der 3000 mitgereisten Fans lautstark zu spüren. „Wenn wir so ein Spiel abliefern, haben die Fans das Recht, ihren Unmut zu äußern“, sagt Matarazzo. Gegen Wolfsburg erwartet er von seiner Mannschaft daher mehr Mut, um „die Fans mitzunehmen. Das ist ein Support, den wir nicht verschenken dürfen.“Ebensowenig wie die Punkte.