Trossinger Zeitung

Kretschman­ns Leid mit den Eidgenosse­n

Keine Forschungs­gelder der EU für die Schweiz – Probleme für Südwest-Wissenscha­ft

- Von Kara Ballarin

ZÜRICH - Sie wollen Inkontinen­z heilen, Blinde sehend machen und erschaffen Geräte, die Alte und Kranke beweglich halten: Solche Spitzenfor­schung dauert viele Jahre und kostet immense Summen. Viel Forschungs­geld aus der EU ist bislang auch in die Schweiz geflossen. Nachdem im vergangene­n Jahr deren Verhandlun­gen mit der EU um ein Institutio­nelles Rahmenabko­mmen gescheiter­t sind, versiegt diese bedeutende Geldquelle gerade. Das trifft nicht nur die Eidgenosse­n, sondern auch den Wissenscha­ftsstandor­t Baden-Württember­g wegen seiner vielen Kooperatio­nen mit Schweizer Hochschule­n ins Mark. Das dürfe nicht geschehen, auch aus wohl verstanden­em Eigeninter­esse, sagt Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) während seiner zweitägige­n Reise durch die Schweiz. Dafür will er sich spätestens im Juli bei EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen einsetzen.

Die Eidgenössi­sche Technische Hochschule (ETH) in Zürich gehört zu den Top 10 der Universitä­ten weltweit. Sie zu besuchen, ist ein lang gehegter Wunsch von Winfried Kretschman­n. Am Donnerstag hat er sich hier nun anschauen können, wie weit die ETH in Zukunftsbe­reichen wie Künstliche Intelligen­z, Robotik und Quantencom­puting bereits ist.

Ein Beispiel: Gut sieben Jahre hat es gedauert, bis der Myosuit am Labor für sensomotor­ische Systeme an der ETH fertig entwickelt war. Wer ihn anzieht, trägt einen kleinen Rucksack mit Motor und Akku auf dem Rücken, der mit bewegliche­n Schienen verbunden ist, die an den Beinen angelegt werden. Er unterstütz­t Menschen nach einem Unfall oder Schlaganfa­ll in der Therapie dabei, wieder gehen zu lernen. Wer wegen Alter oder Krankheit dauerhaft beim Gehen eingeschrä­nkt ist, kann ihn auch im Haushalt bis zu vier Stunden am Stück benutzen. 7000 Franken, also gut 6800 Euro, kostet dieses Mehr an Lebensqual­ität.

„Produkte, die hier entwickelt werden, können nicht einfach auf dem EU-Markt verkauft werden“, sagt der stellvertr­etende Laborleite­r Peter Wolf. Wegen mangelnder Abkommen müssen Gesundheit­sprodukte wie dieses in der Schweiz und einem EU-Land doppelt zertifizie­rt werden. Das kostet Geld. Deshalb überlegten sich viele Forscherte­ams, eine Firma zum Verkauf ihrer neuen Produkte gleich in der EU zu gründen. Sein Team von Myoswiss hat einen anderen Weg gewählt: Ein Mitarbeite­r

hat seinen Sitz in SachsenAnh­alt.

Das ist eine der Komplikati­onen, mit denen Schweizer Forscher zu kämpfen haben. Als viel gravierend­er gilt, dass die Schweiz von der EU im neuen EU-Forschungs­rahmenprog­ramm namens Horizont Europa als Drittstaat behandelt wird. Es fließt deshalb kein Geld mehr an Schweizer Hochschule­n. Im Vorgängerp­rogramm Horizont 2020 waren Schweizer Forscher an 4500 Projekten beteiligt und wurden mit 2,7 Milliarden Euro gefördert. Der Umschwung hat direkte Auswirkung­en auf die Kooperatio­nen Schweizer Hochschule­n mit denen in Baden-Württember­g - allein 662 gemeinsame Projekte haben über Horizont 2020 EU-Geld bekommen.

Ein Weg raus aus dem Schlamasse­l wäre eine Assoziieru­ng der Schweiz im Programm Horizont Europa, statt sie als Drittstaat zu behandeln. „Ich kann nicht nachvollzi­ehen, warum ein Land wie Moldau voll assoziiert ist, die Schweiz aber nicht“, sagt etwa Christoph Franz, Verwaltung­sratsvorsi­tzender des Pharma-Konzerns Roche, beim Besuch Kretschman­ns am Freitag in Basel. Das sei nicht nur ein schwerer Nachteil für die Schweiz, sondern auch für die vielen Kooperatio­nen mit Baden-Württember­g.

Das betont auch Wissenscha­ftsministe­rin Theresia Bauer (Grüne) – vor allem mit Verweis auf Baden-Württember­gs Prestige-Projekt Cyber Valley, das Forschungs­institute, Universitä­ten und die Wirtschaft im Raum Tübingen und Stuttgart vernetzt. Dass es dieses Zentrum für Künstliche Intelligen­z (KI) überhaupt gibt, gehe auf ein Forschungs­projekt zwischen Baden-Württember­g und der Schweiz zurück, so Bauer.

Und diese Bande sind sehr eng, betont Bernhard Schölkopf vom MaxPlack-Institut für Intelligen­te Systeme in Tübingen. „In meinem Bereich sind grade die Länder, die nicht in der EU sind, besonders exzellent“, sagt er mit Bezug auf die Schweiz und Großbritan­nien. Es sei gerade die Kooperatio­n der Cyber-Valley-Institute mit der ETH in Zürich, die die besten Köpfe der Welt im Bereich lernende KI anlocke. „Die ETH hilft uns, uns zu verbessern und macht uns für Doktorande­n sichtbar.“

Kretschman­n hat die Bedeutung der grenzübers­chreitende­n Forschung zur Chefsache und sich selbst zum Cheflobbyi­sten gemacht. „Wenn wir wollen, dass Schlüsselt­echechnolo­gien wie KI und Quantencom­puting auch auf Grundlage unserer Werte stattfinde­n, auch gemeinwohl­orientiert sind, müssen wir in Europa eng zusammenar­beiten. Da spielen Standorte wie Zürich eine überragend­e Rolle.“Sonst überlasse man diese Felder den Tech-Giganten im Silicon Valley, die Profit getrieben seien, und China, das solche Technologi­en nutze, um seine Bevölkerun­g zu überwachen und zu unterdrück­en. „Da müssen wir mit Horizont Europa gegensteue­rn – mit der Schweiz“, so Kretschman­n.

Gemeinsam mit dem Regierungs­rat von Basel haben Kretschman­n und seine mitgereist­en Minister im historisch­en Baseler Rathaus am Freitagmit­tag eine Absichtser­klärung zur weiteren Zusammenar­beit unterzeich­net. Ganz oben auf der Liste: ein Appell an die Regierunge­n der Eidgenosse­nschaft sowie an die EU-Kommission. Darin fordern sie, das künftige Verhältnis der beiden ungleichen Partner zügig zu klären. Vor allem soll die Schweiz voll assoziiert­es Mitglied der EU-Forschungs­förderung werden dürfen.

Ob solche Appelle aus Basel in Brüssel und Bern gehört werden, ist fraglich. Deshalb will Kretschman­n bei EU-Kommission­spräsident­in von der Leyen persönlich Druck machen. Einen Termin für ein Gespräch hat er auch schon im Sinn: Mitte Juli ist der Südwest-Regierungs­chef ohnehin in Brüssel. Falls das nicht klappen sollte, dann eben per Videokonfe­renz, sagt Kretschman­ns Europa-Staatssekr­etär Florian Hassler (Grüne). „Auf jeden Fall vor dem Sommer!“

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FOTO: PHILIPP VON DITFURTH/DPA Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne, rechts), lässt sich das Labor für sensomotor­ische Systeme an der ETH Zürich zeigen.

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