Gewerkschaften im Dilemma
Die kommenden Tarifverhandlungen sollen wenigstens den Verlust an Kaufkraft auffangen
BERLIN - Kurz vor dem Tag der Arbeit am 1. Mai setzt die mächtige IG Metall ein deutliches Zeichen. Die wichtigste Industriegewerkschaft will für die Stahlindustrie im Osten 8,2 Prozent mehr Lohn durchsetzen. „Die Kolleginnen und Kollegen erwarten zu Recht ein Plus, das mindestens die Inflation ausgleicht“, sagt Metall-Betriebsrätin Esther Block. Die Forderung lässt erahnen, was in den kommenden Tarifverhandlungen im Mittelpunkt stehen wird: hohe Abschlüsse, die einen Verlust an Kaufkraft auffangen. Das kündigt auch DGB-Chef Reiner Hoffmann schon an. „Ein Inflationsausgleich, eine Beteiligung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen an den Produktivitätsgewinnen und eine gerechtere Verteilung bleiben die Hauptziele unserer Tarifpolitik“, sagt der Gewerkschaftsfunktionär.
Schon werden warnende Hinweise mit Blick auf die Erfahrungen der 1970er-Jahre laut. Die damalige Ölkrise zog ebenfalls hohe Energiepreise nach sich. In der Folge entwickelte sich eine Lohn-Preis-Spirale. Die Gewerkschaften setzten hohe Lohnsteigerungen durch, woraufhin viele Unternehmen mit Preiserhöhungen reagierten. Für diese gegenseitigen Impulse steht vor allem der Arbeitskampf im öffentlichen Dienst 1974. Die Gewerkschaften forderten 15 Prozent, setzten am Ende nach einem großflächigem Streik eine Lohnsteigerung um elf Prozent durch.
In den vergangenen Jahrzehnten war die Tarifpolitik meist zurückhaltend. Oft war die Beschäftigungssicherung ein ebenso wichtiges Ziel wie höhere Einkommen. Zuletzt kam, etwa bei der Deutschen Bahn, ein weiterer Aspekt dazu: die Wahlmöglichkeit zwischen mehr Geld oder mehr Freizeit. Doch momentan dreht sich alles ums Geld. Eine LohnPreis-Spirale ist trotzdem nicht in Sicht. „Angstmacherei“nennt Hoffmann entsprechende Warnungen von Ökonomen. Viel spricht dafür, dass er Recht behält. So stehen in diesem Jahr kaum neue Tarifverhandlungen an. Lediglich für kleinere Branchen, etwa für Banken, und Versicherungen, werden neue Verträge ausgehandelt. Alle anderen müssen die höheren Preise wohl erst einmal bei unverändertem Einkommen schultern.
Das ändert sich erst im Herbst und verstärkt im kommenden Jahr. Ende des Jahres geht es für die Metallund Elektroindustrie los. 2023 sind mit dem öffentlichen Dienst und dem Einzelhandel weitere Branchen mit Millionen Beschäftigten dran. Erst in diesen Verhandlungen wird sich zeigen, ob die Befürchtung vor zu hohen Lohnabschlüssen, vorgetragen etwa vom Ökonomen Lars
Feld, der auch Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) berät, berechtigt sind.
Einiges deutet auf eine angesichts der rasanten Preissteigerungen vergleichsweise zurückhaltende Tarifpolitik hin. So weist Hoffmann darauf hin, dass der Kampf gegen die Auswirkungen der Inflation nicht allein der Tarifpolitik überlassen werden darf. „Die Politik muss mehr unternehmen, um die Inflation zu bremsen“, verlangt der DGB-Chef. Mit dem Entlastungspaket sieht der Ökonom Sebastian Dullien vom gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) die Bundesregierung auf dem richtigen Weg, die Tarifpolitik zu flankieren. Denn das Land werde durch den extern erzeugten Preisdruck insgesamt ärmer. „Der Kuchen ist kleiner geworden, weil die ausländischen Energielieferanten sich einen Teil davon nehmen“, stellt er fest.
Als Sachverständigenrat gehen wir davon aus, dass die Tariflöhne pro Stunde in diesem Jahr coronabedingt nur um 2,3 Prozent steigen werden. 2023 rechnen wir wegen Konjunkturerholung und Nachholeffekten mit 3,4 Prozent. Die Effektivlöhne inklusive außertariflicher Zahlungen könnten dann um mehr als vier Prozent zulegen.
Wenn die Gewerkschaften einen Ausgleich der Inflation plus Produktivitätsund realen Lohnzuwachs verlangen, könnte das zu Forderungen von zehn Prozent oder mehr führen. Halten Sie das für realistisch?
Dass die Lohnforderungen auf breiter Front zehn Prozent und mehr betragen werden, würde ich bezweifeln – und erst Recht, dass als Ergebnis dann solche Zahlen für die Lohnentwicklung herauskommen. Ich rechne nicht mit einer Preis-Lohn-Spirale, zumal die Energiepreis-Inflation perspektivisch wieder zurückgehen dürfte.
Wäre es sinnvoll, dass die Gewerkschaften sich in Bescheidenheit üben und keinen Inflationsausgleich verlangen, um die Preiserhöhungen nicht anzuheizen?
Die Tarifvertragsparteien sind sich traditionell auch ihrer gesamtwirtschaftlichen Verantwortung bewusst. Sie wollen ebenfalls keine PreisLohn-Spirale. Aber sie können die Inflation auch nicht ignorieren. Da ist die Politik gefragt. Entlastungspakete stützen bereits die Realeinkommen und können Druck aus den Tarifverhandlungen nehmen.
Welcher Lohnzuwachs ist bei sieben Prozent Inflation volkswirtschaftlich vernünftig?
Als mittelfristige Leitlinie sollten die Löhne mit der Zielinflationsrate der EZB zuzüglich dem durchschnittlichen Produktivitätswachstum zulegen. Das wären so um die 3,5 Prozent. Die tatsächliche Lohnentwicklung war daran gemessen in der Vergangenheit häufig zu schwach.