Trossinger Zeitung

Die Energieabh­ängigkeit schrumpft

Deutschlan­d löst sich zusehends von russischen Kohle-, Öl und Gasimporte­n – Debatte um Priorisier­ung

- Von Dieter Keller und dpa

BERLIN - Deutschlan­d macht deutliche Fortschrit­te bei den Bemühungen, die Abhängigke­it von Energie aus Russland zu verringern. Vor allem bei Öl und Kohle ist das in den vergangene­n Wochen in erhebliche­m Umfang gelungen, wie das Bundeswirt­schaftsmin­isterium in seinen „Zweiten Fortschrit­tsbericht Energiesic­herheit“auflistet, der am Sonntag veröffentl­icht wurde. So stammen aktuell nur noch zwölf Prozent des Erdöls aus Russland gegenüber 35 Prozent im vergangene­n Jahr. Bei Kohle sind es nur acht Prozent gegenüber 50 Prozent, was durch Umstellung der Liefervert­räge gelang.

Für russische Kohle hat die EU ein Importverb­ot beschlosse­n, das ab August gilt. Bei Öl soll sich jetzt die Bundesregi­erung nach Berichten aus Brüssel für ein Embargo ausgesproc­hen haben. Dagegen wehren sich noch einige Länder wie Ungarn, Österreich, Spanien und Italien, die Versorgung­sprobleme oder eine Preisexplo­sion befürchten.

Hauptprobl­em bleibt die Abhängigke­it von Erdgas aus Russland. Von dort stammen noch 35 Prozent gegenüber 55 Prozent vor einem Jahr. Das Ministeriu­m hält es für realistisc­h, mit einem „nationalen Kraftakt“den Anteil bis Sommer 2024 schrittwei­se auf zehn Prozent zu senken.

Ein wichtiger Baustein dafür ist der verstärkte Import von Flüssiggas (LNG). Bisher verfügt Deutschlan­d über keine eigenen Importterm­inals. Das soll jetzt so schnell wie möglich geändert werden: Die Bundesregi­erung will den Bau von vier schwimmend­en Terminals mit drei Milliarden

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Euro unterstütz­en. Für Brunsbütte­l in Schleswig-Holstein und Wilhelmsha­ven in Niedersach­sen ist bereits die Entscheidu­ng gefallen; Wilhelmsha­ven soll noch in diesem Jahr in Betrieb gehen.

Damit die Terminals möglichst rasch in Betrieb gehen können, plant die Regierung ein Gesetz zur Beschleuni­gung der Genehmigun­gen. Dafür haben sich das Wirtschaft­s-, das Umwelt- und das Justizmini­sterium auf eine Formulieru­ngshilfe geeinigt. Das Gesetz soll möglichst rasch vom Bundestag beschlosse­n werden.

Geplant ist insbesonde­re, dass Genehmigun­gsbehörden Anforderun­gen, etwa bei der Umweltvert­räglichkei­tsprüfung, unter bestimmten Bedingunge­n vorübergeh­end aussetzen dürfen.

Beim Öl hält es Wirtschaft­sminister Robert Habeck (Grüne) für realistisc­h, die Importe aus Russland im Spätsommer ganz zu beenden. Größtes Problem ist die Raffinerie in Schwedt in Brandenbur­g, die insbesonde­re dieses Bundesland sowie Berlin mit Benzin, Diesel, Heizöl und Kerosin versorgt. Sie ist mehrheitli­ch im Besitz des russischen Staatskonz­erns Rosneft und dürfte den Bezug von Rohöl aus Russland nicht freiwillig beenden. Daher will die Bundesregi­erung durch eine Änderung des Energiesic­herungsges­etzes die Möglichkei­t schaffen, Unternehme­n unter staatliche Treuhandve­rwaltung zu stellen oder auch zu enteignen.

Unterdesse­n wird wegen der anhaltende­n Sorgen vor einem Gasliefers­topp aus Russland heftig diskutiert, wer bei einem Gasengpass bevorzugt werden soll. Der Präsident der Bundesnetz­agentur, Klaus Müller, brachte für einen Gasnotfall am Sonntag die Versteiger­ung von Gasverbrau­chsrechten in der Industrie ins Spiel. Seinen Lösungsvor­schlag erklärt Müller so: „Beim Kohleausst­ieg nutzen wir ein Auktionsmo­dell, um mit ökonomisch­en Anreizen die effiziente­ste Abschaltun­g von Kraftwerke­n zu erreichen“, sagte er der „Frankfurte­r Allgemeine­n Sonntagsze­itung“. Solche Anreize könne er sich auch für den Industrieb­ereich vorstellen. Der Markt wisse besser als der Staat, wo sich Energie am effiziente­sten einsparen ließe.

Wirtschaft­smanager hatten zuletzt gefordert, die Politik solle über eine „umgedrehte“Reihenfolg­e beim Notfallpla­n Gas nachdenken und erst bei Privaten abschalten, dann bei der Industrie. Der Präsident des Stadtwerke­verbands VKU, Michael Ebling, bezeichnet­e die Debatte am Wochenende als „völlig verfehlt“. Ebling sagte, die Rechtslage sei eindeutig. Haushalte und soziale Einrichtun­gen seien geschützte Kunden, die vorranging mit Gas versorgt würden. „Und das ist richtig so.“

Auch aus Sicht von Verbrauche­rschützern darf der gesetzlich­e Schutz privater Haushalte nicht infrage gestellt werden. Thomas Engelke, Teamleiter Energie und Bauen im Verbrauche­rzentrale Bundesverb­and (vzbv), sagte der Funke Mediengrup­pe: „Im Falle von Versorgung­sengpässen müssen private Haushalte als sogenannte geschützte Kunden weiter mit Erdgas und anderen Energien sicher versorgt werden.“Das sei eine gesamtgese­llschaftli­che Aufgabe, die Industrie, Handel und Gewerbe, der öffentlich­e Sektor und private Haushalte gemeinsam bewältigen müssten.

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FOTO: MARCUS BRANDT/DPA Flüssiggas-Pipeline der Firma Nordsee Gas Terminal: In Brunsbütte­l soll Anfang des kommenden Jahres ein schwimmend­es LNG-Terminal in Betrieb genommen werden. Damit sollen jährlich fünf Milliarden Kubikmeter Gas in das deutsche Gasnetz eingespeis­t werden können.

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