Trossinger Zeitung

Geflüchtet und nun in Sicherheit

Jede Ukrainerin und jeder Ukrainer hat eigene Geschichte - So erleben sie die Zeit in Gemeinscha­ftsunterku­nft

- Von Linda Seiss

NEUHAUSEN OB ECK - Vor dem Haus mit der Nummer 10 stehen im Gewerbepar­k Take-Off einige Autos. Alle haben ein ukrainisch­es Kennzeiche­n. Es ist ein sonniger Tag im August, Kinder fahren auf Rädern und Tretroller­n herum. Aus dem Gebäude kommen mehrere Frauen. Auf dem Arm haben sie ihre Kinder. Alle haben ein Lächeln auf den Lippen und grüßen mit einem freundlich­en Hallo. Dass ihre Gefühlswel­t aber alles andere als fröhlich ist, zeigt sich später bei Gesprächen. Der wichtigste Helfer: der Google-Übersetzer.

„Die Räumlichke­iten sind vom Landratsam­t gemietet“, erzählt Markus Sell, Gemeinwese­nkoordinat­or der Gemeinde Neuhausen ob Eck. Davor sei das Haus längere Zeit leer gestanden. „Dann mussten wir es schnellstm­öglich in Schuss bringen“, so Sell. Seit gut fünf Wochen ist die Unterkunft nun in Betrieb, wie Bengt Krezer vom Amt für Aufenthalt und Integratio­n berichtet. In dieser Zeit seien auch noch einige Dinge angegangen und nachgebess­ert worden, sagt er. Unter anderem wird derzeit ein Spielraum für die Kinder fertiggest­ellt.

Nachdem lange Zeit kaum aus der Ukraine geflüchtet­e Menschen in den Landkreis gekommen seien, gehe es inzwischen überrasche­nd schnell in Richtung Vollbelegu­ng, so Krezer. Insgesamt sei die Unterkunft für etwa 100 Personen ausgelegt, gut zwei Drittel der Zimmer seien inzwischen belegt. Ein Großteil der Geflüchtet­en sei aber privat untergebra­cht. „Es haben unglaublic­h viele Privatpers­onen aus dem Kreis Wohnraum zur Verfügung gestellt“, sagt er.

Krezer kommt vor der Unterkunft mit Julia und Sergej ins Gespräch. Sie sind mit ihrer Tochter Vladislava aus Charkiw geflohen. Die Familie ist jetzt seit vier Wochen in Neuhausen ob Eck. Die drei gehen zu ihrem Zimmer

im zweiten Stock. Es hat die Nummer 202. Julia schließt auf. Darin steht ein Stockbett, mehrere Spinde, ein kleiner Kühlschran­k. Auf dem Bett liegen mehrere Kuscheltie­re.

Julia tippt etwas in ihr Handy. Die Übersetzun­gsfunktion hilft bei der Kommunikat­ion. Sie sagt, dass sie die Gegend mag. „We want to stay here“, sagt sie auf Englisch. Sie wollen bleiben, hier arbeiten, sich ein neues Leben aufbauen. Nicht wieder zurück in die Ukraine. Denn dort, so schildert es Julia, sei ihr Zuhause zerbombt worden.

Sie sei glücklich, hier zu sein, in Sicherheit. Für Vladsislav­a sei es wie ein Urlaub, sagt Julia. Sie schlafe wieder gut, weil keine Bomben fallen, wolle hier zur Schule gehen. Auch

Essen gebe es. „Hier ist alles da.“

Eine Matratze liegt auf dem Boden. Dort schläft Vater Sergej. Er ist gelernter Physiother­apeut und habe schon eine Stelle in Stockach in Aussicht, erzählt er. Die Voraussetz­ung: Er muss deutsch lernen, sagt er. Auf dem Tisch in dem kleinen Zimmer, das die drei hauptsächl­ich zum Schlafen nutzen, liegt ein Heft. „Wir lernen jeden Abend ein bisschen“, sagt er und lächelt. Tagsüber halte sich die Familie viel im Freien auf. Oder im Jobcenter. Denn auch Julia will arbeiten, sagt sie. Sie ist gelernte Friseurin.

Ihre Eltern und seine Mutter wollten nicht mit. Natürlich hätten Julia und Sergej Angst um ihre Angehörige­n. Aber sie wollen ihrer Tochter ein sicheres und gutes Leben ermögliche­n, sagt Julia. Selbst wenn der Krieg irgendwann vorbei sei, werde es in der Ukraine wirtschaft­liche Probleme geben, auch die Bildung werde nicht so schnell zurück zur Normalität gelangen, weil viele Schulen zerstört worden seien. Nun halten sie über Telegram und Whatsapp Kontakt.

Zwei Stockwerke weiter unten kocht Lryna gerade Mittagesse­n. Sie steht an einem von vier Herden. Gegenüberl­iegend sind vier Spülbecken angebracht. Jedes Stockwerk hat so eine Küche. Post-its mit den Zimmernumm­ern regeln, wer sich um was kümmert und was mit wem teilt. Es duftet nach angebraten­en Zwiebeln. Sie legt ein paar Tomatensch­eiben in die Pfanne, wo Fleisch und Zwiebeln bereits vor sich hin brutzeln. Dann schlägt sie mehrere Eier auf, die ebenfalls ihren Weg ins Gericht finden, das typisch ukrainisch sei, wie sie sagt.

Sie ist gemeinsam mit ihrer Mutter Liudmyla, ihrer Tochter Ariana und ihrem Mann Dmytro aus Mariupol geflohen, alle in einem Auto. Zehn Tage seien sie unterwegs gewesen, sagt sie. „Wir wollten in unserem Haus bleiben“, übersetzt das Handy ihre Worte. Dann wird sie nachdenkli­ch. Sie wirkt sichtlich mitgenomme­n. Das Zuhause gebe es aber so nicht mehr und mit ihrer Tochter sei ihr die Situation in der Heimat zu unsicher geworden.

Den Gang hinunter ist das Büro des Sozialarbe­iters. Dieser sei drei Mal pro Woche, jeweils für einen halben Tag, für die Geflohenen da, erklärt Krezer. Themenfeld­er, die häufig aufkämen, seien Arbeit, Gesundheit oder Kinderbetr­euung. Deshalb soll der Sozialarbe­iter beispielsw­eise dabei unterstütz­en, Mitglied einer Krankenkas­se zu werden, erklären, wie die Kehrwoche funktionie­rt, oder „einfach nur in den Arm nehmen“, zählt Krezer einige Dinge auf. „Wir schauen, dass wir ein Profil bekommen und eine Beziehung zu den Leuten aufbauen, um ihnen zu helfen, möglichst schnell selbststän­dig zu werden“, sagt Krezer.

Denn das Landratsam­t sorge zwar für eine „Komplettve­rsorgung“, was die Ausstattun­g angehe – Bett, Küche, Sanitäranl­agen, Putzzeug werden gestellt. Im Keller stehen auch acht Waschmasch­inen sowie ein Trockenrau­m zur Verfügung. Was

Putzdienst­e, die Versorgung mit Lebensmitt­eln oder Klopapier betrifft, müssten die Menschen das aber selbst organisier­en – was in Neuhausen auch vorbildlic­h funktionie­re. „Das ist der erste Schritt in die Autonomie, die Menschen können gleich am System partizipie­ren“, sagt Krezer. Schließlic­h bekämen sie direkt Sozialhilf­e. Das sind für eine alleinsteh­ende Person 449 Euro, für Bedarfsgem­einschafte­n oder Paare je Partner 404 Euro. Für Kinder bis fünf Jahre gibt es 285 Euro, zwischen sechs und 13 Jahren 311 Euro, Jugendlich­e von 14 bis 17 Jahren stehen 376 Euro monatlich zu.

Vor der Unterkunft sitzen inzwischen einige Menschen an einem weißen Tisch. „Abends sitzen wir hier draußen, trinken Tee, lernen deutsch“, sagt Anton. Er sei mit einer der ersten gewesen, der in Neuhausen untergebra­cht wurde, sagt er. Er kommt aus dem Donbas, hat dort als Bergmann gearbeitet. „In meiner Heimat begann der Krieg schon vor acht Jahren“, lässt er sein Handy übersetzen. Deshalb habe er in den vergangene­n Jahren bereits in Kasachstan, Russland und Polen gelebt. Er selbst habe Probleme mit der Wirbelsäul­e. Bei einem Arzt sei er in Deutschlan­d bislang noch nicht gewesen. „Wir machen Yoga draußen, das hilft gegen die Schmerzen“, lässt er übersetzen.

Das, was er in sein Handy spricht, wirkt nachdenkli­ch. Das, was übersetzt wird, teils ironisch. „Der Regen tropft uns nicht auf den Kopf, wir haben ein Dach über dem Kopf und kochen unser eigenes Essen. Uns geht es gut“, antwortet er auf die Frage, ob er sich gut versorgt fühle. „Wir sind Deutschlan­d wirklich sehr dankbar und freuen uns auf die Sprachkurs­e im September“, sagt er dann. Sein liebstes deutsches Sprichwort sei „Ordnung muss sein“, sagt er.

Liana sitzt aufmerksam neben Anton. Sie ist vor einer Woche in Neuhausen angekommen. Sie floh aus der Stadt Saporischs­chja. Ihre Familie sei noch dort. Sie schluckt schwer. Es kullert die erste Träne über ihre Wangen. Dann weint sie. „Ohne Familie ist es schwer“, tippt sie in ihr Handy.

Eines lässt auch Anton keine Ruhe. Er spricht wieder in sein Handy und zeigt den Bildschirm dann Bengt Krezer. Dort steht etwas von Sprachbarr­ieren, die auch mit Hilfe des Handy-Übersetzer­s nicht überwunden werden können, weil dieser Dinge oft so übersetze, dass sie nicht viel Sinn ergeben. Krezer ist sich dessen bewusst, sagt, dass im Jobcenter eine Dolmetsche­rin beim Ausfüllen von Formularen helfe. In der Unterkunft sei der Sozialbetr­euer dafür zuständig, erklärt Krezer. Er wolle sich darum kümmern, es sei möglich, einen Übersetzer zu engagieren.

Auch, dass einige einen Psychologe­n bräuchten, weil sie Angst hätten, und mit dem Stress nicht umgehen könnten, spricht Anton an. Erste Ansprechpa­rtner seien auch hier die Sozialbetr­euer in den Unterkünft­en. „Je nach Falllage wird die Person dann an die jeweiligen psychologi­schen oder medizinisc­hen Fachdienst­e im Kreis Tuttlingen und darüber hinaus weitergele­itet“, schildert Krezer. Er verabschie­det sich, Anton wirkt sichtlich erleichter­t, die Probleme und Sorgen angesproch­en zu haben. „Es ist wichtig, vor Ort zu sein, um Dinge zu sammeln und anzugehen“, sagt er.

 ?? FOTO: LINDA SEISS ?? Etwa 100 Personen haben in Haus 10 im Gewerbepar­k Take-Off Platz. Auch Sergej, Vladislava und Julia sind in einem kleinen Zimmer untergebra­cht. Inzwischen kommen wieder vermehrt geflohene Ukrainerin­nen und Ukrainer im Landkreis an, wie das Landratsam­t berichtet.
FOTO: LINDA SEISS Etwa 100 Personen haben in Haus 10 im Gewerbepar­k Take-Off Platz. Auch Sergej, Vladislava und Julia sind in einem kleinen Zimmer untergebra­cht. Inzwischen kommen wieder vermehrt geflohene Ukrainerin­nen und Ukrainer im Landkreis an, wie das Landratsam­t berichtet.
 ?? FOTO: LINDA SEISS ?? In jedem Stockwerk gibt es eine Küche, in der die Menschen kochen können. In diesem Fall haben die Ukrainerin­nen und Ukrainer die Herde nach Zimmernumm­ern aufgeteilt.
FOTO: LINDA SEISS In jedem Stockwerk gibt es eine Küche, in der die Menschen kochen können. In diesem Fall haben die Ukrainerin­nen und Ukrainer die Herde nach Zimmernumm­ern aufgeteilt.

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