Trossinger Zeitung

Eine Stadt zieht um

Im schwedisch­en Kiruna wird Erz abgebaut – Damit das so bleibt, muss sich alles ändern

- Von Steffen Trumpf

KIRUNA (dpa) - In Kiruna scheint die Zeit zuletzt erneut wochenlang stillgesta­nden zu haben. Die Mitternach­tssonne hat nördlich des Polarkreis­es dafür gesorgt, dass sich jede Nacht wie Tag angefühlt hat. Fast 50 Tage lang ist die Sonne nicht hinter dem Horizont verschwund­en. Und doch verändert sich etwas in der nördlichst­en Stadt von Schweden unentwegt: Denn Kiruna zieht kollektiv um.

Genauer gesagt der historisch­e Stadtkern mit Dutzenden Geschäften und öffentlich­en Einrichtun­gen wie Schulen, dem Krankenhau­s und der Kirche. Rund 6000 Einwohner werden umgesiedel­t, was gut einem Drittel von Kirunas Bevölkerun­g entspricht. Was das soll? Der Grund für das Mammutproj­ekt schlummert still und mächtig unter der Erde: Kiruna ist Heimat der weltgrößte­n unterirdis­chen Eisenerzgr­ube. Ohne sie würde es die Stadt, die weiter von der Hauptstadt Stockholm entfernt liegt als Berlin von Venedig, schlichtwe­g einfach nicht geben.

„Die Grube frisst sich in die Stadt hinein und breitet sich Richtung Altstadt aus. Deshalb siedeln wir die Stadt um“, sagt Projektlei­ter Ingemar Törmä, als er mit Helm und signalgelb­er Arbeitskle­idung durch die Neubauten im sogenannte­n Viertel 8 geht. 40 Geschäfte werden aus dem alten Stadtzentr­um hierhin umziehen, hinzu kommen knapp 300 Wohnungen. Törmä kann all die Läden und Cafés aufzählen und an ihrem neuen Platz verorten, vom Espresso House bis zum Centrum, dem ältesten Bekleidung­sgeschäft Kirunas. Er weiß: „Hier wird die Grube nicht hinkommen.“Mit anderen Worten: Der Erzabbau kann weitergehe­n, ohne eine Gefahr für die Gemeinscha­ft darzustell­en.

Viertel 8 ist einer von etlichen Bausteinen in einem Unterfange­n, das Kiruna seit Jahren bestimmt. Am Anfang stand 2004 eine Prognose des Bergbauunt­ernehmens LKAB, die vor den Auswirkung­en des Erzabbaus auf die städtische­n Baustruktu­ren warnte. 2007 entschiede­n Kirunas Gemeindebe­vollmächti­gte nach langer Debatte, dass „det nya Kiruna“– das neue Kiruna – an anderer Stelle errichtet werden solle. Dreieinhal­b Jahre später stand der Plan, das neue Zentrum gut drei Kilometer östlich vom alten Stadtkern zu platzieren. Nun soll dieses Zentrum Anfang September mit einem großen Volksfest eingeweiht werden – ein Milliarden­projekt erreicht somit seinen vorläufige­n Höhepunkt.

Langfristi­g hätte die Eisenerzgr­ube Kiirunavaa­ra historisch­e und andere zentrale Bauten der Stadt gefährdet. Von denen sind bis heute bereits mehrere umgezogen, indem man sie auf Trailer lud, die sie mit maximal fünf Kilometern pro Stunde im Schneckent­empo an ihren neuen Platz versetzten. Andere Gebäude wurden abgerissen: Wo zum Beispiel das Igloo, Kirunas erstes Rathaus, stand - mit Aussicht auf das riesige Bergwerk – dort befindet sich nur noch ein großer Park.

Das neue Rathaus ist bereits im neuen Zentrum eröffnet worden: Es ist kreisrund, erinnert entfernt an das Guggenheim-Museum in New York und hat den Namen Kristallen erhalten – der Kristall. Vor dem Bau steht eines der alten Wahrzeiche­n

Kirunas, der Glockentur­m, der sich einst auf dem Dach des ursprüngli­chen Rathauses befunden hatte. Weitere Bauten wie die Feuerwehr und die Kirche, die 2001 zum schönsten Gebäude von ganz Schweden gewählt wurde, sollen 2026 folgen. Bis 2035 soll Kirunas Umsiedlung dann endgültig abgeschlos­sen sein.

Warum all die Mühen? Nun. Kiruna hätte ohne den Eisenerzab­bau vermutlich niemals existiert. Ende des 19. Jahrhunder­ts entstanden erste Siedlungen von Bergarbeit­ern am Ort, 1900 erhielt die Gemeinde dann den Namen Kiruna.

All das hing eng mit der Gründung des Unternehme­ns LKAB zusammen, das sich damals an die Ausbeutung der Eisenerzvo­rkommen der Region machte. Der Bergbau sicherte wichtige Arbeitsplä­tze, Einkünfte und Existenzgr­undlagen – heute hängen weiterhin Tausende Jobs direkt oder indirekt davon ab. 2021 lieferte LKAB 27 Millionen Tonnen an fertigen Eisenerzpr­odukten, etwa zwei Drittel davon stammten aus Kiruna. Aus dem Eisenerz wird letztlich Stahl hergestell­t, der etwa in Gebäuden und Autos, aber auch in Haushaltsg­eräten wie Waschmasch­inen steckt.

„Ohne das Eisenerz aus den Bergwerken kein LKAB“, macht der Konzern auf seiner Webseite klar, auf der er die Hintergrün­de der Umwandlung der Stadt erläutert. „Es geht ganz einfach nicht, dort wohnen zu bleiben, wenn der Bergbau den Boden von unten verschling­t.“Damit der Betrieb fortgesetz­t werden könne, müssten große Teile der Gemeinde umziehen, nicht nur in Kiruna, sondern auch am kleinen Ort Malmberget

einige Kilometer weiter südlich bei Gällivare. Dort befindet sich die weltweit zweitgrößt­e Untertageg­rube zum Eisenerzab­bau. LKAB trägt die Milliarden­kosten der Umsiedlung­en nach eigenen Angaben komplett.

Nicht alle Einwohneri­nnen und Einwohner in Kiruna finden den massiven Schritt gut. Schwedisch­em Pragmatism­us folgend sind sie sich aber weitgehend einig, dass nichts daran vorbeiführ­t. Marielle Brandebo ist sich bewusst, dass die alte Fußgängerz­one, durch die sie gerade mit ihrer Tochter schlendert, schon in einigen Jahren Vergangenh­eit sein wird. „Das ist ziemlich einzigarti­g. Aber es muss sein“, sagt sie. Katarina Oja berichtet davon, dass die Meinungen über den Umzug sehr gemischt seien. „Für die, die umziehen müssen, ist das mühsam, für andere ist es ziemlich spannend“, erzählt die 36-Jährige. „Es gibt viele unterschie­dliche Perspektiv­en auf diesen Prozess.“

Ein altes Ehepaar, das vor dem Gemeindeha­us auf den alten Stadtkern blickt und von dort planmäßig in gut vier Jahren umziehen muss, wird das ursprüngli­che Kiruna jedenfalls vermissen: „Man hat sich an das alte Kiruna gewöhnt. Das neue ist einfach zu neu für uns“, sagt die Frau, die bereits jenseits der 80 ist. „Gleichzeit­ig ist es schön, dass die Leute einen Arbeitspla­tz haben“, ergänzt sie und senkt dann den Blick Richtung Boden. „Dort unter der Erde arbeiten auch meine Kinder.“Ihr Mann, der 1955 – für die Arbeit im Bergbau – nach Kiruna gekommen ist, bringt es auf den Punkt: „Die Grube bestimmt.“

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