Erst das Land, dann die Partei
Für Freunde der direkten Ansprache war es durchaus unterhaltsam, wie Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei der Generaldebatte zum Haushalt aufeinander losgingen – zumal beider Parteien in den vergangenen Jahren doch mehrfach in einer Regierungskoalition verbunden waren. Doch im Grund ist die Lage in Deutschland zu ernst, um sich an gewitzten Attacken und gelungenen Retourkutschen zu erfreuen. Millionen Menschen in Deutschland fragen sich, woher sie das Geld für die rapide steigenden Energiepreise in Deutschland nehmen sollen, das gilt für Privatleute wie für Selbstständige und Unternehmer gleichermaßen.
Die Ampel-Koalition präsentiert sich in dieser krisenhaften Situation als janusköpfiges Wesen. Auf der einen Seite will sie Milliarden Euro in die Hand nehmen, um denjenigen zu helfen, die von den steigenden Preisen für Strom und Gas am stärksten betroffen sind. Auf der anderen Seite verknappt sie bewusst das Angebot an Strom, indem die drei verbliebenen Atomkraftwerke in Deutschland zum Jahresende vom Netz oder – vielleicht – in die Kaltreserve gehen. Dass der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck so entschieden hat, ist mit Blick auf die Wahl in Niedersachsen zu erklären. Dass sich Scholz, wie jetzt im Bundestag, hinter diesen Beschluss stellt, spricht vor allem für sein Interesse, die Koalition als solches zu erhalten.
Um es nicht kleinzureden: Die Ampel-Koalition müht sich seit dem russischen Angriff auf die Ukraine mit den Fehlern der Vergangenheit. Sie muss im Rekordtempo neue Energiequellen auftun, Gasspeicher füllen und die Folgen des Krieges abschwächen. Um diese Aufgaben beneidet sie höchstens Merz, der selbst gerne regieren würde. Für die Bürger in diesem Land bedeutet das zweierlei. Sie sollten nicht zu streng sein, wenn die Regierung Fehler macht – das Ausmaß der Krise ist schließlich auch für sie neu. Gleichzeitig kann die Bevölkerung aber erwarten, dass der Grundsatz „Erst das Land, dann die Partei“endlich ernst genommen wird. Wenn nicht jetzt, wann dann.
c.kling@schwaebische.de