Zeitenwende zwischen Steuerfragen und defekten Haubitzen
Waffenlieferungen, Bündnisverstärkung und Sondervermögen lauten die Stichworte für das neue Selbstverständnis der Bundeswehr
BERLIN - Zeitenwende – das bedeutet inzwischen eher Energiekrise und Preisexplosion. Bis vor einigen Wochen allerdings verbanden sich mit dem Wort hauptsächlich Waffenlieferungen an die Ukraine und das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr. Was ist daraus geworden?
Waffenlieferungen: Vier Monate nach Beginn des Krieges gab die Bundesregierung ihren Geheimhaltungsmodus auf. Seit Juni veröffentlicht sie regelmäßig aktualisierte Aufstellungen der „militärischen Unterstützungsleistungen“für die Ukraine. Gefechtshelme, Schlafsäcke und Zelte sind dort ebenso gelistet wie über 20 Millionen Schuss Handwaffenmunition, 100 000 Handgranaten und über 10 000 Schuss Artilleriemunition. Inzwischen enthält die Aufstellung auch die lange umstrittenen und noch länger von der Ukraine geforderten schweren Waffen: 20 Flugabwehrpanzer Gepard, zehn Panzerhaubitzen 2000 und drei Mehrfachraketenwerfer Mars beispielsweise.
Insbesondere die Panzerhaubitzen wurden intensiv benutzt, so intensiv, dass es Mitte August hieß, es seien nur noch fünf einsatzbereit. Intern wurde in Berlin ein „hoher Verschleiß“eingeräumt, nun sollen Fernwartung, aber auch Technikerausbildung verstärkt werden. Zudem soll die Ukraine weitere 100 der modernen Artilleriewaffen bekommen; sie müssen allerdings erst noch von der Industrie gebaut werden – und das wird Jahre dauern.
Der Gesamtwert der Militärausfuhren Richtung Ukraine seit Januar liegt nach Angaben der Bundesregierung bei über 733 Millionen Euro. Einiges, wie der Mehrfachraketenwerfer und die Panzerhaubitzen, wurde direkt aus den Beständen der Bundeswehr genommen. Damit allerdings sei bald Schluss, warnt Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD). „Da kommen wir an
die Grenzen dessen, was wir aus der Bundeswehr abgeben können“, sagte sie erst vor wenigen Tagen. Diese Haltung könnte sie aber beim Treffen mit den Kollegen der UkraineUnterstützergruppe an diesem Donnerstag erneut unter Druck setzen. Zuletzt hatte sie in genau dem Rahmen die Mehrfachraketenwerfer zugesagt, eine Entscheidung, die der Truppe nach Angaben von Insidern „deutlich ins Fleisch schneidet“. Die
Lieferung von Kampfpanzern wie dem Leopard 2 ist für die Bundesregierung weiterhin tabu. Noch am Sonntag hatte der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal diesen Wunsch persönlich bei Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vorgetragen. Offenbar ohne Erfolg. Scholz bekräftigte am Mittwoch im Bundestag seine Linie: „Wir werden keine deutschen Alleingänge machen.“Tatsächlich liefert bislang kein NatoLand
moderne Kampfpanzer westlicher Bauart. Als Grund dafür wird offiziell genannt, eine „Eskalation zwischen Nato und Russland zu verhindern“. Hinter vorgehaltener Hand heißt es zudem, dass die Ausbildung der Ukrainer an diesen hochmodernen Geräten zu aufwendig wäre.
Ringtausche: Ringtausch, das war zunächst die Zauberformel bei der
Militärhilfe. Es ging um Schnelligkeit: Die kämpfenden Ukrainer sollten ihnen vertrautes Material sowjetischer Bauart bekommen, das sie ohne lange Schulungen einsetzen können. Die abgebenden Länder sollten anschließend ihre Bestände mit deutscher Hilfe auffüllen. So der Plan. Bis in den August hinein aber war das einzige funktionierende Projekt dieser Art eine Kooperation zwischen Deutschland, den Niederlanden
und der Slowakei in Sachen Luftraumverteidigung. Ansonsten hakte es. Unterschätzt wurde offenbar, wie kompliziert ein solcher Deal ist. Im Verteidigungsministerium können sie zum Beispiel sehr lange erklären, wie vertrackt allein die steuerrechtlichen Fragen sind.
Seit wenigen Wochen nun gibt es Erfolge: Zunächst mit der Slowakei, kurz darauf auch mit Tschechien wurden deutsche Kampf- und Bergepanzer als Ersatz für an die Ukraine gelieferte T72-Panzer vereinbart. Polen dagegen, das rund 200 Panzer an die Ukraine abgegeben hatte, warf Deutschland öffentlich ein „Täuschungsmanöver“vor.
Raketenschutzschild: Gleich zu Beginn des Krieges hatte die Bundesregierung die Verbesserung der deutschen Luftverteidigung in Aussicht gestellt. Dann allerdings verschwand das Thema Raketenschutzschild, ehe Scholz es nun in seiner Europa-Rede in Prag aufgriff: Europa habe hier „erheblichen Nachholbedarf“, sagte der Kanzler und kündigte „ganz erhebliche Investitionen“in dem Bereich an – einschließlich europäischer Kooperation. Details nannte Scholz nicht; als eine wahrscheinliche Option gilt bei der Bundeswehr die Anschaffung des israelischen Systems Arrow 3, das angreifende Waffensysteme in großer Höhe zerstören kann. Die Kosten werden grob auf zwei Milliarden Euro geschätzt.
Nato-Verstärkung Die zugesagte Verstärkung der Nato-Ostflanke ist angelaufen. Am Sonntag trafen in Litauen die ersten zusätzlichen deutschen Soldaten ein. Deutschland soll am Militärstützpunkt Rukla eine Kampftruppen-Brigade mit 3000 bis 5000 Soldaten führen, die sich allerdings größtenteils nicht in Litauen, sondern in Deutschland bereithalten. In Rukla stationiert werden Waffen, Munition und ein Führungsstab. Schon jetzt sind deutsche Soldaten als Teil eines Nato-Bataillons von etwa 1600 Soldaten vor Ort.