Erfolgreich und umstritten
Der Ulmer Drogeriemarkt-Unternehmer Erwin Müller wird heute 90 Jahre alt
ULM - Für Überraschungen war Erwin Müller immer gut. Aber dass er sich im fast biblischen Alter noch einmal selbst auf dem Chefsessel seines Drogeriemarkt-Konzerns niederlassen würde, hatte man doch nicht erwartet. Aber genau das geschah kurz vor seinem heutigen 90. Geburtstag. Erst 2019 hatte Müller den Aldi-Manager Günther Heim als CEO eingesetzt, möglicherweise, so war vermutet worden, auch als seinen Kronprinzen. Doch es entwickelte sich anders. Die Chemie zwischen Müller und Heim soll von Anfang an nicht gestimmt haben. Heim ließ es zwar in der Öffentlichkeit an Loyalität gegenüber dem Inhaber nicht fehlen, konnte sich aber mit dessen wohl sehr gewöhnungsbedürftigem Umgangs- und Führungsstil nicht anfreunden.
Und so kam es, wie es kommen musste. Ende August trennte sich Müller von Heim mit sofortiger Wirkung. Damit ist die Nachfolgefrage bei Deutschlands drittgrößter Drogeriemarkt-Kette wieder offen. Allerdings könnte eine von Müller in Österreich gegründete Privatstiftung, die 35,4 Prozent der Firmenanteile hält, in Zukunft eine zunehmend mitbestimmende Rolle spielen.
Die Personalie Günther Heim ist nicht die erste, die im Zusammenhang mit Erwin Müllers Unternehmen Schlagzeilen machte. Auch der Vertriebschef Lukas Lobensommer und Finanzchef Christian Remy hatten in diesem Frühjahr den Drogeriemarkt-Riesen verlassen. Bereits 2006 war es zu massiven Differenzen Müllers mit seinem Sohn Reinhard, einem studierten Betriebswirt, gekommen. Der Streit endete mit dessen Absetzung als Geschäftsführer. Dass dies genau in dem Jahr geschah, in dem Erwin Müller in zweiter Ehe seine ehemalige Sekretärin heiratete, mag Zufall gewesen sein. Jedenfalls gilt Anita Müller aber bis heute als besonders einflussreich im Unternehmen.
Dass der gebürtige Münchner und gelernte Friseur Erwin Müller durchaus Ecken und Kanten hat und Auseinandersetzungen nicht scheut, hatte sich schon in den ersten Jahren seiner selbstständigen Tätigkeit in Ulm gezeigt. 1967 brachte er die Friseur-Innung gegen sich auf, weil er – entgegen den Regeln und einer lange geübten Praxis in diesem Handwerk – seinen Betrieb in der Ulmer Bahnhofstraße auch montags geöffnet hatte. Die FriseurInnung schloss ihren Kollegen daraufhin aus, was diesem aber als „Rebell von Ulm“eine bundesweite Popularität einbrachte.
Haarschnitt und Dauerwellen waren dem umtriebigen Müller bald zu wenig. Er nahm auch Kosmetik- und andere Drogerieartikel in sein Angebot auf, sozusagen als ersten Schritt in das große Drogeriemarkt-Geschäft. Weitere sollten bald folgten. 1968 eröffnete Erwin Müller im Wertkauf-Center München einen Friseursalon mit Drogerie- und Parfümabteilungen. Seinen ersten reinen Drogeriemarkt gründete er 1973 in Ulm. Was dann folgte, war eine Expansion, wie sie für die Drogeriemarkt-Branche – siehe dm, Rossmann und früher vor allem Schlecker – zwar nicht ungewöhnlich, aber dennoch bemerkenswert ist.
An seinem heutigen 90. Geburtstag gebietet Erwin Müller wieder als alleiniger Chef über ein Firmenimperium
aus 891 Filialen, davon 573 in Deutschland, 97 in Österreich, 85 in Kroatien, 67 in der Schweiz, 33 in Ungarn, 22 in Slowenien und 14 in Spanien. Das Sortiment von insgesamt rund 190 000 Artikeln reicht längst weit über die traditionellen Drogerieartikel hinaus und umfasst unter anderem den Multimedia-Bereich, Spiel- und Schreibwaren, Haushaltswaren, Handarbeitsartikel und Strümpfe. Die Zahl der Beschäftigten liegt bei rund 35 000, die der Auszubildenden bei etwa 700. Im Geschäftsjahr 2019/20 betrug der Umsatz laut „Bundesanzeiger“4,01 Milliarden Euro, der Jahresüberschuss erreichte 67,3 Millionen Euro.
Die unternehmerische Leistung Erwin Müllers, die sich in diesen Zahlen ausdrückt, ist zweifellos beeindruckend. Dafür ist er auch mehrfach ausgezeichnet worden, etwa mit dem baden-württembergischen Gründerpreis und dem Großen Silbernen Ehrenzeichen mit Stern der Republik Österreich. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Müllers beruflicher Werdegang nicht frei ist von weniger erfreulichen Ereignissen und Entwicklungen, was ihn auch als umstritten gelten lässt. Von Müllers Problemen mit seinem Sohn und familienfremden Managern war schon die Rede. Gewerkschaften und Betriebsräte hat er stets für überflüssig und lästig gehalten. Als 2009 Mitarbeiter in einem Neu-Ulmer Lager von Müller eine Betriebsratswahl planten, wollte der Chef dies verbieten. Es kam zum Prozess, den die Mitarbeiter gewannen. Sie gründeten einen Betriebsrat – mit der Folge, dass Müller das Lager umgehend an eine Spedition verkaufte.
Immer wieder wurden auch Vorwürfe laut, der Unternehmer wolle mit überzogenen Kontrollen dafür sorgen, dass vor allem die Führungskräfte keinen Zentimeter von der Linie abweichen, die er vorgab. 2009 hatte die „Süddeutsche Zeitung“berichtet, das Unternehmen sammle detaillierte Informationen über Krankheiten der Mitarbeiter. Beschäftigte müssten regelmäßig Auskunft über ihren Gesundheitszustand geben. Dieser Bericht rief auch die baden-württembergische Aufsichtsbehörde für den Datenschutz auf den Plan. Sie verhängte gegen zwei Firmen der Müller-Gruppe ein Gesamtbußgeld von 137 500 Euro.
Mit einem geschätzten Vermögen von 2,8 Milliarden Euro belegte Erwin Müller 2017 auf der „Forbes-Liste“Platz 47 unter den reichsten Deutschen. Noch einige Jahre vorher hatte ihn sein Faible für riskante Finanzwetten beinahe ins Straucheln gebracht – als sich der Unternehmer mit Währungsgeschäften gegen den Schweizer Franken verspekulierte. Auf Druck der Banken musste Müller damals seinen Konzern neu ordnen, Geld nachschießen und umfangreiche Sicherheiten für die weitere Finanzierung stellen.
Schiffbruch erlitt er auch mit hochriskanten Fonds, die ihm die Schweizer Bank J. Safra Sarasin verkauft hatte. Immerhin aber erstritt der Drogerie-Unternehmer aus dieser Geschäftsbeziehung vor Gericht 45 Millionen Euro Schadenersatz. Als besonders spendabel galt und gilt Müller trotz seines Vermögens in der Öffentlichkeit allerdings nicht, die er ohnehin so gut es geht meidet. Aber auch in diesem Punkt war Müller schon für Überraschungen gut, beispielsweise als er für die Aktion „Drachenkinder“des Senders Radio 7 respektable 60 000 Euro spendete.
Dass Erwin Müller bis heute als Musterbeispiel eines Workaholics gilt und nach wie vor jeden Tag in der Firma anzutreffen ist, heißt freilich nicht, dass er sich überhaupt keine privaten Liebhabereien gönnt. Auf Mallorca besitzt er eine Finca und betreibt eine Straußenfarm. Zudem geht er gern in die Luft, standesgemäß mit einem Segelflugzeug, das mit einer Spannweite von 30 Metern eines der weltweit größten seiner Art sein soll. Bereits 1995 hatte Müller das Café Gerbeaud in Budapest, eines der traditionsreichsten Kaffeehäuser Europas, erworben und aufwendig restauriert, so dass es heute wieder im alten Glanz der Gründerzeit erstrahlt.