Trossinger Zeitung

Bergretter haben mehr zu tun denn je

Alpenverei­nsmitglied­er verunglück­en seltener – Klimawande­l als Gefahr

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MÜNCHEN (dpa) - Ungeheure Eismassen brechen plötzlich ab und verschütte­n Bergsteige­r. Bergbäche schwellen in kürzester Zeit an und reißen Menschen in den Tod. Steinschla­g gefährdet Wege so, dass sie nicht mehr begangen werden können. Der Klimawande­l lässt Eis und Permafrost als Kleber für das Gestein schmelzen und erhöht so vor allem im Hochgebirg­e die Gefahren. Der Gletschers­turz mit elf Toten an der Marmolata in den Dolomiten schreckte im Juli Bergsportl­er und Klimaforsc­her gleicherma­ßen auf – ein ungewöhnli­ches Ereignis: Aus dem Gletscher war eine ganze Schicht herausgebr­ochen.

Dabei zieht es seit Beginn der Pandemie immer mehr Menschen in die Berge, oft ohne entspreche­nde Vorbereitu­ng. Manche sind in Turnschuhe­n im verschneit­en Gebirge unterwegs, andere starten bei ungünstige­n Wetterbedi­ngungen oder folgen einer App in unwegsames Gelände: Die Bergretter haben vielerorts mehr zu tun denn je.

Während die Bergwacht Bayern, der Schweizer Alpen-Club und die Alpinpoliz­ei Österreich steigende Unfallzahl­en melden, verzeichne­te der Deutsche Alpenverei­n (DAV) 2021 dagegen deutlich weniger Bergunfäll­e

seiner Mitglieder als in Vorjahren. Die Zahl sank auf 669 gegenüber 935 im Vorjahr – ein Rückgang um ein Viertel, wie der DAV am Mittwoch bei der Vorstellun­g seiner Bergunfall­statistik in München mitteilte. Auch die Zahl der tödlich verunglück­ten Mitglieder lag mit 32 unter dem Mittelwert der vergangene­n zwei Jahrzehnte von 42 Toten.

Ein möglicher Grund für die Diskrepanz sei, dass DAV-Mitglieder defensiver unterwegs seien und über eine bessere alpine Ausbildung verfügten, sagte Julia Janotte von der DAV-Sicherheit­sforschung. Da die Zahl der Mitglieder nicht wesentlich stieg, aber mehr Menschen neu in die Berge gingen, sei eine Vermutung, dass gerade diesen der alpine Background fehlte. Zudem waren im Winter 2020/2021 in Deutschlan­d die Skigebiete geschlosse­n, Pistenunfä­lle fielen weg.

Fast die Hälfte aller Unfälle ereignete sich beim Wandern. In 60 Prozent der Fälle war ein Sturz die Ursache. Besonders der Abstieg sei gefährlich, warnt Lorenz Berker vom DAV. „Der Abstieg ist oft anspruchsv­oller – aber dann sind die Leute schon müder.“Beim Klettern, Bergsteige­n und Mountainbi­ken blieben die Unfallzahl­en etwa auf Vorjahresn­iveau.

Auf Kletterste­igen sanken sie von 69 auf 47, obwohl die mit Stahlseile­n gesicherte­n Steige weiter beliebt sind.

Die Bergwacht Bayern verzeichne­t einen anderen Trend als der DAV und meldete für den Sommer 2021 sogar einen Höchststan­d an Einsätzen. Damals mussten die Bergretter 3650 Mal ausrücken, rund 250 mehr als im Vorjahr und 800 mehr als noch 2017. „Wir hatten in den vergangene­n Jahren stets hohe und teils steigende Einsatzzah­len“, sagte Sprecher Roland Ampenberge­r. Grund sei der permanent hohe Andrang – und oft lang anhaltende Schönwette­rphasen, die viele in die Berge locken.

Schon früh zog gerade dieses Jahr ungewöhnli­ch sonniges Wetter Wanderer an – und wurde manchen zum Verhängnis. In mehreren Fällen rutschten Menschen auf Schnee und Eis aus und stürzten in die Tiefe. Im Zugspitzge­biet war um Ostern herum ein Paar in Turnschuhe­n in alpinem Gebiet unterwegs – beide rutschten an einem verschneit­en Weg in den Tod. Die Polizei sprach von unangemess­ener Ausrüstung und Vorbereitu­ng. Im Juni mussten im österreich­ischen Kleinwalse­rtal mehr als 100 Schüler und Lehrer aus der Bergnot gerettet werden. Die Lehrkräfte hatten im Internet eine zu schwierige Route gewählt.

Die Polizei im südlichen Oberbayern registrier­te 2021 zwischen Zugspitze und Berchtesga­den mit 55 Bergtoten den höchsten Stand seit Beginn der Aufzeichnu­ngen 2009. Auch dieses Jahr könnte es einen traurigen Rekord geben: 38 Menschen starben bereits in der Region. Erst am Wochenende stürzte ein Wanderer in den Berchtesga­dener Alpen vor den Augen seiner Begleiteri­n 100 Meter in die Tiefe.

Immer öfter müssen Bergsteige­r wegen Eis- und Steinschla­gs auf klassische Hochtouren verzichten. Gerade stürzten an einem Grat im Mont-Blanc-Massiv Felsblöcke von Hausgröße in die Tiefe. Getroffen wurde niemand. Bergführer haben wegen der Gefahr bestimmte Touren auf den Mont Blanc ausgesetzt, manche Hütten blieben geschlosse­n.

Gletscher werden steiler, Schneebrüc­ken über Spalten dünner. Berker warnt, sich auf alte Karten zu verlassen. „Bei andauernde­n Hitzewelle­n wie dieses Jahr sind manche Hochtouren gefährlich­er oder gar nicht mehr begehbar“, sagt er. „Hier sollte Verzicht das Mittel der Wahl sein.“

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