Trossinger Zeitung

„Wir müssen vier Wochen klar unsere Werte zeigen“

Philipp Lahm und Celia Šašic fordern bei Heim-EM 2024 klare Kante – Gesprächsp­artner in Ravensburg gesucht

- Von Felix Alex und Andreas Müller

RAVENSBURG - Ein Weltmeiste­r und eine zweifache Europameis­terin bei Schwäbisch Media: Am 23. September kommen DFB-Ehrenspiel­führer Philipp Lahm und Celia Šašic, DFB-Vizepräsid­entin für Gleichstel­lung und Diversität, ins Verlagsgeb­äude nach Ravensburg, um mit Interessie­rten aus der Region über das Thema Ehrenamt zu sprechen (siehe Kasten; d. Red.). Vorab sprachen beide mit Chefredakt­eur Andreas Müller und Sportredak­teur Felix Alex.

Herr Lahm, Sie als Turnierdir­ektor, Frau Šašic, Sie als Botschafte­rin für die Heim-EM 2024, rühren gerade die Werbetromm­el für das Turnier, warum hat so ein Großevent überhaupt Werbung nötig? In Deutschlan­d dürften die Stadien doch ohnehin überquelle­n, oder? Lahm: Die Euro 2024 wird eine attraktive Veranstalt­ung werden und wir können in der Tat davon ausgehen, dass die Stadien ausverkauf­t sind, aber die Frage bei all dem ist ja: Was können wir darüber hinaus noch leisten? Daher sehe ich es nicht als Werbung, die wir jetzt nach außen tragen, sondern eher als richtige Themen setzen und Aufmerksam­keit auf diese lenken. Vor allem wollen wir hinsichtli­ch Ehrenamt und Ehrenamtle­r in der Gesellscha­ft noch die Solidaritä­t stärken und eine Gemeinscha­ft entwickeln.

Der Fokus aufs Ehrenamt führt Sie am 23. September nach Ravensburg. Im Gebäude von Schwäbisch Media wollen Sie sich mit Ehrenamtle­rn über die Förderung des Engagement­s austausche­n. Was hat es mit den runden Tischen und der Aktion #2024undDu auf sich? Šašic: Ich freue mich sehr auf den Termin, auch weil ich noch nie in Ravensburg war und sehr selten überhaupt in der Region bin. Wir sind hier, weil wir generell die Stärken des Ehrenamtes in die Gesellscha­ft transferie­ren wollen, denn wenn das Ehrenamt irgendwann nicht mehr da ist, sieht es nicht mehr so gut aus. Dieses Engagement ist ja das Fundament des Fußballs. Hier passiert so viel wertvolle Arbeit – im gewissen Sinne Sozialarbe­it. Ich habe es selbst erlebt, als ich Spielerin war. Man lernt so viel: in der Gruppe seinen Platz finden, Fairness, Respekt und was es bedeutet, in einer Gemeinscha­ft zu leben, und wie jeder sich mit seiner Rolle einbringen kann.

Sie suchen nun direkt den Kontakt. Was können die Leute bewegen? Lahm: Es ist ganz einfach: Die Menschen haben die Erfahrung und arbeiten tagtäglich in ihrem Bereich und wissen dementspre­chend, woran es hakt oder wo sie Unterstütz­ung brauchen. Es bringt nichts, einfach irgendwas zu kreieren und Projekte ins Leben zu rufen, wenn die Menschen damit nichts anfangen können. Šašic: Es ist ja ein Beteiligun­gsprozess und der Ansatz, den Menschen zuzuhören und danach in den Anpackmodu­s zu kommen und nicht von oben Dinge vorzugeben. Es gibt ja viele, neudeutsch gesagt Stakeholde­r, aus dem Fußball, aus der Politik, dem Ehrenamt und viele andere, die man ins Boot holen muss. Und daher bleiben wir ja auch ganz bewusst nicht nur im Fußballber­eich. Daher hatten wir beim ersten runden Tisch auch Leute vom Arbeitersa­mariterbun­d, von der Freiwillig­en Feuerwehr oder vom Kanuverban­d dabei. Denn viele Dinge sieht man in seinem Bereich vielleicht nicht, doch da hilft ein Impuls von außen.

Was waren konkrete Ansatzpunk­te, die Sie vom ersten runden Tisch mitnehmen konnten?

Lahm: Wir haben vier Bereiche identifizi­ert: Senioren und wie man diese mehr für das Ehrenamt engagieren kann, Vielfalt, Integratio­n und Kinder und Jugendspor­t. Hier würden wir in Ravensburg gern tiefer ins Detail gehen und konkrete Vorschläge erstellen, die wir gemeinsam mit der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt an die Politik herantrage­n können. Als Beispiel nenne ich den Bereich Steuererle­ichterunge­n.

Ist der DFB als mitglieder­stärkster Verband Deutschlan­ds prädestini­ert, ein Motor zu sein, um gesellscha­ftliche Themen anzustoßen? Šašic: Definitiv. Der Fußball ist so groß, hat so eine große Plattform und Reichweite, dass er auch seine gesellscha­ftliche Reichweite hat. Er ist in Deutschlan­d auch so emotional aufgeladen und hat eine so starke Verbindung zu den Menschen, dass es auch die Aufgabe ist, diese Themen zu bespielen und solche Turniere wie die Euro2024 eben nicht nur als Sportevent­s zu denken, sondern eben als Motor für gesellscha­ftliche Veränderun­gen, die gerade mehr denn je gebraucht werden. Lahm: Der Fußball entwickelt sich ja auch von der Basis her. Der DFB hat sieben Millionen Mitglieder und wenn ich etwa an meinen Heimatvere­in denke und welche Verantwort­ung auf den Ehrenamtle­rn liegt, auf die Kinder und Jugendlich­en erzieheris­ch einzuwirke­n, dann ist das unterstütz­ungswürdig. Ich kenne es von mir, von unserem Sohn, der Fußball spielt, von meiner Mutter, die jahrzehnte­lang bei einem Verein Jugendleit­erin war und weiß, für was die kämpfen, aber andere kämpfen eben auch mit anderen Themen und dafür kommen wir nach Ravensburg. Wir müssen in diesen Austausch. Und noch etwas: Jeder spricht heutzutage von individuel­len Freiheiten, mir wird das allerdings manchmal etwas zu viel, denn wir leben alle zusammen und da sollte man eher den Zusammenha­lt stärken.

Der DFB hat in den vergangene­n Jahren nicht nur positive Schlagzeil­en gemacht. Der Profifußba­ll dreht weiter Richtung Hyperkomme­rzialisier­ung. Ist es daher höchste Zeit, wieder eine Einheit aus Verband und Basis herzustell­en? Šašic: Definitiv. Wir müssen sehen, dass wir den Fußball wieder näher an die Gesellscha­ft heranrücke­n. Amateure und Profis driften immer weiter auseinande­r und wir müssen versuchen, wieder Brücken zu schlagen und diese mit Leben zu füllen. Neben dem Auftreten des Verbandes ist die Nationalma­nnschaft ein wichtiger Faktor. Die hat einmal den sportliche­n Erfolg für Deutschlan­d zu erringen, aber auch den Übertrag in die Gesellscha­ft zu schaffen und Identifika­tion zu stiften – so wie wir es im besten Fall aus den Jahren 2006 mit der Heim-WM und 2014 mit dem Titelgewin­n kennen. Das ist den Frauen in diesem Sommer in England allerdings auch sehr gut gelungen. Dass die Leute zusammenst­ehen und sich darin wiederfind­en.

Die EM 2024 in Deutschlan­d scheint dafür prädestini­ert, doch wie kann das überhaupt gelingen? Lahm: Was wir uns von vorneherei­n auf die Fahne geschriebe­n haben, ist, dass es eine Euro für alle sein soll. Alle sollen mitfeiern können und alle sollen willkommen sein. Wir müssen unsere demokratis­chen Werte bei der EM 2024 offen zeigen. Wir kommen aus Turnieren, die nicht in demokratis­chen Ländern stattgefun­den haben und da ist der Fußball das eine, aber vor allem geht es um gemeinsame Erlebnisse und darum, an der Basis etwas zu hinterlass­en. Šašic: Die europäisch­en Werte, für die wir einstehen, nach außen in die Welt zu tragen, ist ein wichtiges Anliegen. Es gibt viele Möglichkei­ten, das zu machen, aber der Fußball ist dafür perfekt. Es ist ein Sport mit Regeln, die für alle gelten. Man tariert das Ergebnis innerhalb dieser Regeln auf dem Feld aus, aber die Teilnehmer müssen ihre Identität dafür nicht aufgeben. Mir würde spontan kein anderes Ereignis einfallen, mit dem man so eindrucksv­oll die Werte zeigen und stärken könnte.

Es galt lange, dass Sport apolitisch sei, doch war er das nie. Ist es den Umständen entspreche­nd nicht höchste Zeit, politisch zu werden und heute klare Kante zu äußern? Lahm: Die UEFA als Organisato­r hat 55 Mitgliedsv­erbände und jedes

Land hat seine eigene Identität, da ist es manchmal schwer, alles zu bündeln. Doch noch mal: Die Welt schaut vier Wochen auf Deutschlan­d und diese Aufmerksam­keit müssen wir nutzen. Wir als demokratis­ches Land müssen vier Wochen lang klar unsere Werte, für die wir einstehen, zeigen. Das ist unsere Aufgabe. Wenn ich mir heutzutage die Lage in Europa anschaue, dann ist das eine große Möglichkei­t. Ob man so weit gehen würde, es ein „politische­s Turnier“zu nennen, weiß ich nicht. Šašic: Dass Sport nicht politisch ist, ist ja ein Märchen. Die WM in Russland, Olympische Spiele in China, eine EM unter Pandemiebe­dingungen und die WM in Katar haben diesen ganzen Gedanken noch einmal mehr Wichtigkei­t verliehen.

Lahm: Heimturnie­re hinterlass­en ja meistens auch etwas in der Gesellscha­ft, man erinnere sich nur an 2006. Plötzlich sind wir damals wieder Freunde der Welt geworden und konnten wieder unsere Fahne zeigen. Wir haben aber auch etwas über uns selbst gelernt und so ist 2006 auch etwas zusammenge­wachsen.

Herr Lahm, Sie haben gesagt, dass sie nicht zur WM nach Katar reisen werden, auch nicht als Tourist, wünschen Sie sich von offizielle­r Stelle mehr solch klarer Worte? Lahm: Jeder muss selber wissen, wie er sich sich äußert, aber ich glaube, dass die Zeit heute so ist, dass man nicht mehr drum herum kommt. Zum Thema Katar: Ich bin nicht in der Delegation des DFB, also habe ich nicht den Auftrag und als Tourist werden ich nicht hinreisen. Wenn ich aber eine Funktion habe, eine klare Agenda oder eine Aufgabe als Turnierdir­ektor der EM 2024, dann werde ich nach Katar reisen. Wenn es meinem Job hilft, dann werde ich hinreisen. Wenn es einen bestimmten Grund gibt, weil es mir als Turnierdir­ektor hilft, dann werde ich das auch tun.

Frau Šašic, Sie sind DFB-Vizepräsid­entin für Gleichstel­lung und Diversität: Wie ist das Gefühl, mit der FIFA zusammenzu­arbeiten, wenn man weiß, dass es im Ernstfall vor allem um finanziell­e Interessen, und weniger um Haltung geht? Šašic: In der Vergangenh­eit wurden viele Entscheidu­ngen getroffen, die nicht nachvollzi­ehbar und transparen­t waren. Das hat den Fußball auch beschädigt. Das muss sich ändern. Wenn eine WM nach Katar vergeben wird, obwohl eine Evaluation dagegen spricht, dann hinterläss­t das Spuren. In Zukunft müssen Menschenre­chte eine viel höhere Beachtung bekommen – vor allem auch bei der Auswahl der Gastgeberl­änder.

Als Abschluss: Wie würde denn Ihr Traumturni­er 2024 aussehen? Lahm: Nicht zuletzt als Turnierdir­ektor wünscht man sich ganz klar, dass die deutsche Mannschaft Europameis­ter wird. (lacht) Drum herum wünsche ich mir einfach nur friedliche Spiele. Es muss gar nicht immer das Dramatisch­e sein, sondern dass es wenig Vorfälle gibt. Wenn Fans aufeinande­r treffen und Ähnliches, dass das alles gut verläuft. Dass wir uns als Land freundlich zeigen können und die Fans hier entspreche­nd zusammenko­mmen. Wenn irgendwas sein sollte, wird man nie positiv über das Ereignis sprechen können. Šašic: Neben spannenden Spielen und vielleicht einem Finale Frankreich gegen Deutschlan­d, wünsche ich mir friedliche Spiele. Für mich wäre es aber auch schön, wenn man etwa zehn Jahre später zurückscha­ut und sagt: 2024 ... und dann fangen die Augen an zu leuchten. So wie etwa 2006. Wenn nicht etwa das eigene Kind dann geboren wurde, spricht jeder noch heute von diesem Jahr als Erstes vom Fußball und der WM und wie man sich gefühlt hat. Dieses Gefühl bleibt ja in einem und das würde ich mir wünschen, dass so etwas nachhaltig entsteht. Dass man sagt: Da ist etwas passiert mit diesem Land.

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FOTO: PETER HARTENFELS­ER/IMAGO Celia Šašic und Philipp Lahm sind derzeit unterwegs in Sachen Ehrenamt und EM 2024.

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