„Es ist sehr traurig zu erleben, dass den Kindern ihre Kindheit gestohlen wird“
Karina Beigelzimer ist Deutschlehrerin an dem „Lyzeum Nr. 90“in Odessa. Außerdem berichtet sie als Journalistin für verschiedene Medien über die schwierige Situation in ihrer Heimatstadt, die permanent unter Beschuss steht. Frank Wilhelm sprach mit ihr über den Alltag, ihre Schüler und die Haltung gegenüber den Russen.
Wie sieht der Alltag in Odessa zurzeit nach mehr als zwei Jahren Krieg aus?
Wir erleben eine Mischung aus Freude über das Überleben der Nacht und einer gewissen Verwirrung über unsere Situation. In den letzten Monaten hat sich die Sicherheitslage in der Region weiter verschlechtert, wobei Angriffe mit Drohnen und Raketen zunehmen. Diese ständige Bedrohung durch den Krieg beeinf lusst unser tägliches Leben erheblich. Wir leben quasi zwischen den Fliegeralarmen und müssen jederzeit bereit sein, in den Schutzkeller zu gehen.
Wir versuchen trotzdem, ein Stück Normalität in unser Leben zu bringen, den Krieg ab und zu vergessen, uns ein wenig abzulenken. Aber das funktioniert nur bis zum nächsten Fliegeralarm. Das ist unser Leben. Wir können es nicht planen. Man kann sich beispielsweise vornehmen, in ein Einkaufszentrum zu gehen. Wenn du aber dort bist und dann plötzlich der Fliegeralarm ertönt, musst du sofort in den Schutzkeller. Manchmal dauert der Fliegeralarm 20 Minuten, manchmal 2 Stunden. Es ist mir schon mal passiert, dass ich einen Film im Kino sehen wollte. Ich habe drei Anläufe genommen, weil es dreimal Fliegeralarm gab, nach 5 Minuten, nach 20, nach 50 Minuten. Das sind nur kleine Beispiele, die zeigen, wie unser Leben hier in Odessa funktioniert.
Wir hören in Deutschland oft von den russischen Luftangriffen auf Kyjiw (Kiew). Es heißt, dass die Luftabwehr die meisten Raketen und Drohnen unschädlich macht. Wie gut ist Odessa geschützt?
Die Luftverteidigung für die Hauptstadt Kyjiw ist deutlich besser als bei uns in Odessa. Das kann man nicht vergleichen, allein, wenn es um die Zahl der Flugabwehrsysteme geht. Unsere Verteidigung ist recht gut, aber trotzdem gibt es immer wieder Verletzte und Tote. Es wurde uns gesagt, dass, wenn die russischen Angriffe weitere so intensiv fortgesetzt werden, es irgendwann an der Munition für die Luftabwehr fehlen wird.
Gerade haben die USA etwa 60 Milliarden Dollar für die Ukraine-Hilfe bewilligt. Wie haben sie diese Entscheidung in der Ukraine aufgenommen?
Das war für uns eine große Erleichterung. Wir empfinden es so, als wenn jemand unser Leben rettet. Im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn du abends schlafen gehst und nicht weißt, wie lange die russischen Raketen noch abgefangen werden können, ist das einfach schrecklich. Es kann sein, dass das in zwei Wochen nicht mehr möglich ist und dein Leben dann davon abhängt, ob es genug Munition gibt. Es waren eigentlich alle hier in Odessa super glücklich über die Entscheidung der USA. Sie müssen sich vorstellen, dass wir immer wieder viele Nächte hintereinander nicht in den Schlaf finden, weil wir Angst haben, dass wir immer wieder in die Schutzräume müssen.
Früher, etwa vor einem Jahr, war das nicht so, seinerzeit haben wir den Fliegeralarm oft ignoriert, weil es nicht so gefährlich war wie in diesen Wochen und Monaten. Wir haben wirklich lange auf diese Hilfe aus den USA gewartet. Auch Präsident Selenskyi hat gesagt, dass wir den Krieg ohne diese Unterstützung verlieren könnten. Wir haben gewartet wie kranke Menschen, die eine erschütternde Diagnose bekommen haben und auf das Geld für eine erfolgreiche Therapie hofften.
Vor kurzem hatten wir in der Region Odessa einen traurigen Rekord: Da dauerte der Fliegeralarm fast acht Stunden. In solchen Momenten wird uns klar, wie sehr unser Leben von diesen Flugabwehrsystemen abhängt. In diesen Momenten fühlt man sich sehr hilf los.
Sie sprachen von Kinos und Geschäften, die in Odessa geöffnet sind. Ich kann mich an Bilder zu Beginn des Krieges Anfang 2022 erinnern, die das Opernhaus von Odessa mit Panzersperren zeigte. Ist das Haus auch wieder geöffnet?
Ja, im Opernhaus gibt es Veranstaltungen, genauso wie in anderen Theatern. Auch einige Museen sind geöffnet. Es gibt verschiedene Kulturveranstaltungen in der Stadt. Vor dem Krieg war Odessa eine internationale Touristenmetropole. Am Anfang des Kriegs kam natürlich fast kein Urlauber mehr hierher. Aber jetzt erholt sich der Inlandstourismus wieder. Die Tourismusbranche ist zurzeit sehr erfinderisch, so werden Gastrotouren organisiert, bei denen Wein und Käse in den Katakomben verkostet werden. Viele semi-kulturelle Veranstaltungen sind geplant, zum Beispiel kann man an einem Brunch mit Schauspielern teilnehmen. Aber auch Stadtführungen für Flüchtlinge und AbenteuerTouren für Kinder werden angeboten.
In letzter Zeit wurden in Odessa viele kleine gemütliche Cafés eröffnet, die oft thematische Abende oder Vorlesungen veranstalten. Diese Ereignisse zeigen, dass die Menschen bemüht sind, sich damit einerseits vom Krieg abzulenken, andererseits auch ein Stück Normalität für ihr Leben wiederzuerlangen. Ein Beispiel hierfür ist das Odessaer Filmstudio. Dessen
Leiter hat den Plan vorgestellt, dass bald ein historischer Film über die Stadt gedreht werden soll. Solche Nachrichten sind sehr wichtig für die Moral der Bewohner und Gäste der Stadt.
Zwei Neubrandenburger Bürger waren Ende 2023 in Lemberg (Lwiw) mit einem privat organisierten Hilfstransport. Sie erzählten von einem vergleichsweise normalen Alltag ...
... Aber sie können Lemberg im Westen der Ukraine nicht mit Odessa vergleichen. In Lemberg gibt es sehr selten russische Angriffe, genauso wie beispielsweise in Uschhorod im Dreiländereck Ukraine, Ungarn und Slowakei, wo man wahrscheinlich gar keine russischen Drohnen kennt. Wir fahren in den Westen unseres Landes, um uns zu erholen. Das kann man nicht vergleichen mit Regionen wie Cherson, Odessa, Saporischschja, Mykolayiv, Dnipro oder Charkiv, die sehr stark mit Drohnen und Raketen angegriffen werden.
Unter welchen Bedingungen können Sie den Schulunterricht in Odessa organisieren?
Präsenzunterricht darf nur an Schulen mit einem Luftschutzkeller gegeben werden. Wenn an eine Schule 500 Mädchen und Jungen gehen, der Schutzraum aber nur über 250 Plätze verfügt, findet an der Schule Unterricht in Schichten statt. Das bedeutet beispielsweise, am Morgen und am Nachmittag oder dass in der einen Woche diese Klassen in die Schule gehen, die Woche darauf die anderen. Es gibt aber auch Online-Klassen, wenn die Eltern der Schüler Angst haben, ihre Kinder in die Schule zu schicken oder wenn die Schüler nicht in der Stadt leben, weil die Eltern beispielsweise nach Moldau geflohen sind. Ein Teil der Schüler sitzt in der Schule, die anderen zu Hause vorm Computer. Das wäre dann Hybridunterricht. Jede Schule entscheidet letztlich selbst, wie sie ihren Unterricht organisiert.
Es kann aber auch passieren, dass es mitten im Unterricht plötzlich Fliegeralarm gibt?
Ja natürlich, fast jeden Tag, an manchen Tagen auch mehrfach. Dann müssen wir alle sofort in unseren Schutzraum. Manchmal sitzen wir dort zwei, drei Stunden, in einem engen Raum mit 200 Kindern. Das ist natürlich belastend, für die Kinder und die Lehrer. Man gewöhnt sich aber daran. Die Kinder versuchen zu spielen, sprechen miteinander.
Es ist aber sehr schwer für die Lehrer: Stellen sie sich vor, der Unterricht läuft zehn Minuten, dann kommt der Alarm. Es geht ab in den Schutzraum, nach 20 Minuten endet der Alarm. Eine Stunde ist dann wieder alles okay, ehe es den nächsten Fliegeralarm gibt.
Wie gehen die Schüler mit dieser permanenten Gefahr um?
Das ist sehr unterschiedlich, es hängt natürlich vom Kind ab. Es gibt viele, die Angst haben. Einige haben sich daran gewöhnt. Aber was bedeutet, gewöhnen? Wenn sie die ganze Nacht nicht geschlafen haben, wenn es stundenlang starke Explosionen bei Drohnenangriffen gab und sie am nächsten Morgen in die Schule müssen, fällt es schwer, sich zu konzentrieren.
Unter normalen Bedingungen haben Lehrer das Ziel, Schüler auf ein bestimmtes
Leistungsniveau zu heben. Welches Ziel verfolgen Sie als Lehrerin unter Kriegsbedingungen?
Wir versuchen, das Leistungsniveau nicht zu senken. An unserer Schule lernen die Schüler die deutsche Sprache als erste Fremdsprache. Wir sind die einzige Schule in Odessa, die dieses Angebot macht. Die Schüler können in der 9. Klasse die Sprachprüfung DSD1 ( B1) ablegen, und in der 11. Klasse DSD2 (B2 C1). Dieses Ziel zu erreichen ist unter den aktuellen Bedingungen sehr, sehr schwer. Wir versuchen es trotzdem, und die Schüler verstehen, dass es sehr wichtig ist. Auch wenn sie oft im Unterricht müde sind, ist ihnen bewusst, dass das Wissen wie eine Waffe ist, ohne Wissen geht es nicht. Wir sind aber nicht nur Lehrer, wir sind auch Seelsorger für unsere Schüler.
Können Sie bitte ein Beispiel nennen?
Wenn ein Mädchen in die Schule kommt und mir erzählt, dass sie sich Sorgen um ihren Bruder macht, weil er an der Front ist. Oder wenn es sich um ein Flüchtlingskind handelt, das etwas Schreckliches erlebt hat, das Angst hat. Oder wenn ich sehe, dass ein
Kind mit seinen Gedanken irgendwo anders ist, dann versuche ich, das Kind ruhig mit einfachen Fragen zurück in die Realität zu holen.
In Ihrem jüngsten Eintrag in dem Blog „Im Kriegsgebiet. Tagebücher aus der Ukraine“erwähnen Sie drei Ihrer Schüler: Oleksii, der einige Zeit in Holland und Deutschland verbracht hatte, bevor er wegen der Krankheit seiner Mutter in die Ukraine zurückkehrte. Julia, deren Eltern beim Militär sind und die oft allein mit ihrem jüngeren Bruder bleiben muss. Oder auch Sofia, die zu Beginn des Krieges mit ihrer Mutter nach Deutschland ging, um im Herbst 2022 dann doch wieder nach Odessa zurückzukehren.
Die drei Schüler kommen alle aus meiner 9. Klasse. Sofia und ihre Mutter haben sich, als sie in Deutschland lebten, sehr nach dem Vater und dem Bruder gesehnt. Der Vater war in Odessa geblieben, der Bruder kämpft an der Front. Sof ia ist eine meiner jüngsten Schülerinnen und ein sehr f leißiges Mädchen, das super motiviert ist. Aber manchmal bin ich auch traurig, weil sie sich Sorgen um ihren Bruder macht. Sie checkt oft ihre Nachrichten auf dem Handy, um sich zu vergewissern, dass es ihm gut geht.
Es ist natürlich eine große Belastung für die Schüler, wenn die Brüder, die Väter oder andere nahe Verwandte an der Front sind oder wenn sie Angehörige im Krieg verloren haben. Ich habe auch Kinder an der Schule, deren Wohnungen durch Drohnen und Raketen zerstört wurden. Es ist sehr traurig zu erleben, dass den Kindern ihre Kindheit gestohlen wird.
Oleksii, Yulia und Sofia haben übrigens im März die internationale Prüfung DSD1 abgelegt, worauf ich sehr stolz bin.
Die Schüler sind trotz aller Probleme auch über den Unterricht hinaus aktiv?
Wir versuchen, so viel wie möglich zu machen, beispielsweise verschiedene Projekte. So nehmen die Schüler der 9. und 10. Klassen an internationalen Online-Projekten teil. Eine Gruppe wurde im vergangenen Jahr nach Bremen eingeladen. Diese Schüler waren so glücklich, dass sie eine Woche ohne Krieg leben konnten, dass sie einfach mal ruhig schlafen konnten. Aber auch für die deutschen Kinder und Eltern war der Besuch bereichernd. Sie waren überrascht, wie motiviert, wie stark und reif unsere Schüler sind. Es wäre schön, wenn es mehr solche Angebote für Kinder aus dem Kriegsgebiet geben könnte.
Jahrelang haben Russen und Ukrainer friedlich zusammengelebt, auch nach dem Ende der Sowjetunion. Es gibt viele Familien, in denen der Vater Russe, die Mutter Ukrainerin ist. In Odessa war die russische Sprache bis zum Überfall im Februar 2022 die weit verbreitetste Sprache.
Diese Beziehungen wurden schon 2014 mit der Annexion der Krim teilweise zerstört. Und es wurde schlimmer und schlimmer.
Wie denken Sie, wie denken Ihre Schüler heute über die Russen?
Was kann man denken über Menschen, die uns jeden Tag bombardieren? Menschen, die vor dem Krieg nach Odessa gekommen sind, jeden Sommer am Meer verbracht haben und sagten, wie schön unsere Stadt ist. Und die uns jetzt mit Drohnen und Raketen bombardieren! Was soll man sagen über Menschen, die in Butscha Zivilisten vergewaltigt und ermordet haben?! Das ist nicht nur für mich, das ist auch für meine Schüler zu viel. Sie empfinden vielleicht nicht unbedingt Hass, aber Verachtung. Ja, sie sagen, dass sie die Russen verachten. Und das ist nicht nur die Meinung der Schüler, sondern auch der meisten Erwachsenen.
Odessa war früher eine eher prorussische Stadt. Aber mit der Annexion der Krim 2014, mit jedem Angriff in der Ostukraine, mit dem Angriffskrieg seit Februar 2022 hat das immer mehr abgenommen. Früher haben fast alle Bewohner Russisch gesprochen, ich auch. Mittlerweile versuchen fast alle, Ukrainisch zu sprechen. Jede Bombe zerstört immer mehr, was es früher an Beziehungen zwischen Ukrainern und Russen gab.
Sie arbeiten als freie Journalistin für verschiedene deutschsprachige Medien. Bekommen Sie auch Feedback?
Ja, oft, und ich bin glücklich, dass ich den Menschen im deutschsprachigen Raum erzählen kann, was bei uns wirklich passiert.
Einige Menschen schreiben mir auf Facebook und Instagram und stellen Fragen. Es gibt aber auch Leute, die uns zum Beispiel über Bekannte in Deutschland fragen, wie man helfen kann – alten Menschen, Bedürftigen, Soldaten oder Kindern. Mit jeder Hilfe, mit jedem kleinen Schritt wird ein sehr großer Beitrag für uns geleistet.
Ich stehe beispielsweise länger schon mit einem Mann aus Tützpatz bei Neubrandenburg in Verbindung. Er schickt den Schulen aus Odessa und Saporischschja regelmäßig deutschsprachige Bücher und Lehrbücher, aber auch Spielzeug, Sportwaren für die Kinder und anderes. Außerdem motiviert er auch andere Deutsche, der Ukraine zu helfen. Das ist sehr viel wert! Wir wissen nicht nur die großen Summen für die militärische Hilfe zu schätzen.
Wie denken Sie, wie denken die Menschen in Odessa über Deutschland, über die Hilfe Deutschlands für die Ukraine? Würden Sie sich noch mehr Unterstützung wünschen?
Natürlich sind wir über jede Form von Unterstützung dankbar. Und Deutschland hat ja auch schon sehr viel für die Ukraine geleistet, gerade mit der Aufnahme von Flüchtlingen.
Das unterschätzen wir alle nicht. Aber klar, würden sich alle freuen, wenn Deutschland die Taurus-Raketen liefern würde. Aber das geht jetzt nicht und wir versuchen, das zu akzeptieren. Ich habe jedoch große Sorge, dass der Krieg noch lange anhält.