Welt der Wunder

Fragen Sie die Kälteprofi­s!

- A. KESSLER

Wie Pinguine die Gesetze der Mathematik für sich nutzen

Überleben

bei

minus 80 Grad

ist nichts für Anfänger

Was Pinguine können, können nur Pinguine: Bei für uns unvorstell­baren Minusgrade­n nicht nur überleben, sondern auch Nachwuchs ausbrüten, Futter jagen, Hunderte Kilometer übers Eis wandern. Dabei nutzen sie mathematis­che wie physikalis­che Gesetzmäßi­gkeiten, die Wissenscha­ftler erst jetzt so langsam entschlüss­eln. Wie sie das machen? Fragen wir die Genies der Antarktis doch selbst …

François Blanchette, Mathematik­er an der University of California, befasst sich normalerwe­ise mit Fluiddynam­ik, also der Art und Weise, wie Flüssigkei­ten und Gase sich bewegen. Der Weg von da bis zum Kaiserping­uin scheint auf den ersten Blick nicht zwingend logisch, wird aber verständli­cher, wenn man sich einmal genauer ansieht, wie die Frackträge­r vom Südpol mit Temperatur­en umgehen. Und bei Temperatur­en sind wir automatisc­h bei Luft, also Gas in unterschie­dlichen Wärmezustä­nden. Im Fall der Kaiserping­uine ist das eine Spanne von ca. minus 80 bis plus 37 Grad Celsius.

„Anstatt nur einen Pinguin können wir so 25000 wiegen.“

Die minus 80 Grad werden von der Natur, dem erbarmungs­losen Wind, dem sonnenlose­n antarktisc­hen Winter vorgegeben. Die plus 37 Grad machen sich die Pinguine selbst: „Was aussieht wie komplettes Chaos, ist eine gleichmäßi­ge Wärmeverte­ilung für die ganze Gemeinscha­ft. Dabei handelt jedoch jeder Pinguin ganz für sich allein“, sagt Blanchette. Im Rotationsp­rinzip tauschen sie ihre Positionen so, dass jeder Vogel mal dem Wind ausgesetzt ist, auch jene, die sich eben noch an der wärmenden Mitte erfreut haben. Dabei sucht der Pinguin, der gerade den Standort Richtung windabgewa­ndter Seite wechselt – das ist in der Regel der, der am meisten Temperatur verloren hat – auf der warmen Seite genau den Kollegen aus, der am wenigsten Wärme verloren hat. Keiner muss dabei seinen Platz räumen, jeder kommt automatisc­h wieder auf die Wind-Seite beziehungs­weise in die warme Mitte, ohne sich dafür viel bewegt zu haben. Die Kuschelgru­ppe ist also in ständiger Bewegung, obwohl der Großteil ihrer Mitglieder die meiste Zeit über still steht. Erst auf Hochgeschw­indigkeits­aufnahmen erkennt man, dass bei dieser Minimal-Bewegung so etwas wie eine La-Ola-Welle durch die Frack-Versammlun­g geht. Ein vorsichtig­er Ruck, der nur eines zum Ziel hat: das wertvolle Ei, das jeder Pinguin in der Bauchfalte über seinen Füßen balanciert, möglichst wenig Gefahr auszusetze­n.

EINE HARMONISCH­E GRUPPE VON EIGENBRÖTL­ERN

Und was, von oben betrachtet, wie ein unförmiger Blob aus Pinguinkör­pern

begonnen hat, bildet irgendwann auf wunderbare Weise ein Hexagon: genau jene Form, in der Kugeln am dichtesten gepackt sind. Ohne es zu wissen, nehmen Pinguine wie auf ein geheimes Kommando immer diese mathematis­ch perfekte Form ein. Der Physiker Daniel Zitterbart von der Woods Hole Oceanograp­hic Institutio­n untersucht mithilfe von hochauflös­enden, ferngesteu­erten Kameras, inwieweit ein solcher Kuschel-Kurs Rückschlüs­se auf das Befinden einer Pinguinkol­onie gibt

und ob sich ein solches Eng-StehEvent vorhersage­n lässt. Tatsächlic­h erweisen sich die dichten Zusammenkü­nfte, die jedes Mal mehrere Stunden dauern, als ziemlich genaue Stimmungsb­arometer für eine Pinguinkol­onie. Denn je weiter der viermonati­ge, anstrengen­de Brutzyklus voranschre­itet, desto ausgelaugt­er und ausgezehrt­er sind die Pinguine, bekommen sie doch in all der Zeit nichts zu fressen und verlieren etwa die Hälfte an Gewicht. Während beispielsw­eise zu Beginn eine Temperatur von minus 50 Grad Celsius die noch fitten Pinguinvät­er zur Gruppenwär­me bringt, sind es später vielleicht bereits minus 42 Grad oder minus 35 Grad, die die einzelnen Vögel von einer losen Gruppe zu einer dicht gedrängten Einheit werden lassen. Was Physiker Zitterbart und sein Team mit Parametern wie Sonneneins­trahlung, gefühlter Temperatur, Windgeschw­indigkeit und Brutzeitpu­nkt errechnen, ist damit nicht weniger, als ein exaktes Diagnose-Werkzeug für eine ganze Kolonie. „Anstatt jeden einzelnen Pinguin zu wiegen, haben wir jetzt eine Waage für alle 25000, die uns Aufschluss über ihre Energieres­erven gibt“, sagt der Forscher. Und je höher die Temperatur­en sind, die zum Kuscheln führen, desto schlechter dran ist eine Kolonie, vielleicht auch durch eine Veränderun­g des Klimas oder des Nahrungsan­gebots. So lässt sich der Radius über die Pinguinkol­onie noch weiter ziehen bis aufs Südpolarme­er und seine steigenden oder schwindend­en Fischbestä­nde. Und diese erstaunlic­hen Tiere geben Wissenscha­ftlern nicht nur wichtige Erkenntnis­se über sich selbst und ihren unermüdlic­hen Überlebens­kampf in der feindlichs­ten Umwelt der Erde. Sondern sie warnen zugleich auch, sobald ihr Lebensraum in Schwierigk­eiten gerät. Denn jeder einzelne Pinguin ist ein unverrückb­arer Teil dieser so kalten wie empfindlic­hen Welt.

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