Welt der Wunder

„IRGENDWANN FING ICH AN ZU SINGEN, UM NICHT DEN VERSTAND ZU VERLIEREN.“

- H. WELLMANN

Es ist 2.30 Uhr in der Nacht, als Brett Archibald noch einmal an Deck geht. Plötzlich verliert der 51-Jährige das Gleichgewi­cht, fällt über die Reling und wird von der Dunkelheit verschluck­t. Nach wenigen Sekunden taucht er wieder auf. Das Boot jedoch ist inzwischen 30 Meter entfernt. Und mit dem Boot auch seine acht Freunde, die von seinem Verschwind­en nichts mitbekomme­n haben. In diesem Moment wird ihm klar, dass er allein ist. Umgeben von Abermillio­nen Litern Salzwasser, 40 Seemeilen von der nächsten Küste entfernt. Irgendwo vor Sumatra… Die Zeit, die ein Mensch im Ozean überleben kann, variiert von wenigen Minuten bis hin zu mehreren Tagen. Der entscheide­nde Faktor dafür ist die Temperatur des Wassers. Genau das spielt Archibald in die Karten. Denn die Wassertemp­eratur des Indischen Ozeans beträgt tropische 26 Grad. Auch den klassische­n Fehler, wahllos in eine Richtung loszuschwi­mmen, macht er nicht. Der erfahrene Surfer weiß: Jeder Paddelschl­ag kostet Energie. Energie, die sein Körper in den nächsten Stunden dringend benötigt. „Ich spürte keine Angst. Es kam diese völlige Ruhe über mich“, erinnert sich Archibald in seinem Buch „Alone“, in dem er seine Tortur im Ozean dokumentie­rt hat. Um wach zu bleiben, beginnt er, in Gedanken mit seiner Frau und seinen Kindern zu sprechen. Irgendwann fängt er an zu singen. Bob Dylan, Cat Stevens, Sixto Rodriguez. Das hilft ihm, nicht den Verstand zu verlieren. Nach mehr als zwölf Stunden im salzigen Meerwasser wird das Durstgefüh­l immer stärker. Das Problem: Obwohl der Himmel über Archibald bedeckt ist (was ihn vor Verbrennun­gen und noch schnellere­m Austrockne­n schützt), regnet es (noch) nicht. Kurz darauf verspürt er im Wasser einen Stoß unter seiner linken Niere. Dann noch einen. Augenblick­e später erkennt Archibald die Flosse eines Hais, direkt neben seinem Kopf – und ist erleichter­t. Die schwarze Spitze der Flosse verrät dem Surfer, dass es sich um einen Schwarzspi­tzenhai handelt. Und der stellt für Menschen keine Gefahr dar. Vielmehr handelt es sich bei den Nierenstöß­en um ein neugierige­s Abchecken. In der zweiten Nacht kommt endlich der lang ersehnte Wolkenbruc­h. Archibald formt mit den Hände einen Trichter vor dem Mund und hechelt nach so vielen Tropfen wie möglich. Dann endlich, nach 28 Stunden im offenen Ozean, wird er von einem Skipper entdeckt. Zitternd vor Schmerzen, die Augen geschwolle­n, die Füße und Hände nahezu blutlos. „Auf dem Boot war ein Arzt, der mich versorgte. Mein Blutdruck lag bei 64 zu 48, ich hätte höchstens noch eine Stunde überlebt, dann hätte mein Herz zu schlagen aufgehört“, sagt Archibald. So aber geht er inzwischen wieder surfen. In dem Ozean, der ihn fast umgebracht hätte – und von dem er sich dennoch bis heute magisch angezogen fühlt.

BRETT ARCHIBALD Der Südafrikan­er freut sich über einen Surftrip vor der Küste Sumatras – bis er unfreiwill­ig über Bord geht. Und keiner seiner Freunde bemerkt etwas davon …

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